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Der Weg ist das Ziel

Angelika Gentgen - 15.11.2002

Heute - endlich - war es soweit:
Grönemeyer in der Kölnarena!

Die beiden Karten hatte ich schon Monate vorher geordert. Und seit Wochen hieß es "Ausverkauft"!

Der Arbeitstag wollte kaum enden, und nun saßen wir endlich in der Zubringerbahn. Im Abteil - es war ein Raucherabteil -befanden sich bereits mehrere Frauen. Uns gegenüber saß eine jung, dicke. Alles an ihr wirkte praktisch: Jeans, Anorak, Turnschuhe, Kurzhaarschnitt, keine Schminke.

Der Zug fuhr an; sie schaute angestrengt aus dem Fenster und versuchte trotz der bereits eingesetzten Dunkelheit zu erkennen, wo sie sich befand: "Ach, so sieht Düren aus! Das hätte ich auch nicht gedacht, dass ich auf meiner Rundreise heute Düren noch zu Gesicht bekomme!"

Uns schräg gegenüber saßen vier weitere Frauen. Alle vier rauchten, und alle vier hatten offensichtlich ihren Zenit bereits überschritten. Besonders die uns am nächsten sitzende fiel durch ihr Aussehen auf. Sie wirkte herausgeputzt, trug eine Hochsteckfrisur, zu viel und zu golden glänzenden Schmuck. Ihre Fingernägel waren überlang und knallrot lackiert.
Ihrer Unterhaltung und ihrer Einkaufstüten gemäß war zu entnehmen, dass sie in Aachen einen freitäglichen gemeinsamen Einkaufsbummel getätigt hatten.

Zuerst dachte ich unser Gegenüber würde zu ihnen gehören. Sie stellte sich jetzt schlafend, aber ich bemerkte, dass sie uns verstohlen beobachtete.

"Schau mal", stubste ich meinen Mann an und deutete auf die Fingernägel der Herausgeputzten: "Die superlangen Nägel! Das muss doch stören, beim Maschineschreiben oder bei der Hausarbeit!" "Das ist bestimmt Gewohnheitssache!" meinte er. "Na ja, ich weiß nicht!"

Offensichtlich wurden wir der Dicken sympathisch.
"An mein Gesicht habe ich noch nie Schminke heran gelassen! Und das seit 37 Jahren nicht!" In diesem Moment fielen mir ihre makellosen weißen Zähne auf und ihr hübsches Lachen, und ich dachte: Ach, sie ist schon 37!
"Wissen Sie, ich bin nämlich Epileptikerin, und da hat man andere Sorgen als sich herhauszuputzen und zu schminken!"
Und ich dachte: Hoffentlich bekommt sie jetzt nicht einen epileptischen Anfall! Was tut man denn dann?
"Ich mache gerade eine Umschulung in Bonn, die dauert 3 Jahre. In dieser Zeit wohne ich auch dort in einem Internat."
"Welche Umschulung ist das denn?"
"Zur Bürokauffrau. Aber, wer nimmt schon eine Epileptikerin? Dabei braucht man mir nur einen harten Gegenstand zwischen die Zähne zu stecken!"
Ich guckte fragend: "Wie?"
"Ja, damit ich mir nicht die Zunge abbeiße."
"Wie oft haben Sie denn diese epileptischen Anfälle?"
"Unterschiedlich; etwas alle 3 Jahre einen. Es kommt auf die richtige Tablettendosierung an und darauf, dass ich mich nicht zu sehr aufrege. Aber wenn ich mich mal aufrege male ich ein paar Bilder, und dann beruhige ich mich auch wieder."
Ich sah sie an der Staffelei stehen.
"Welche Bilder denn?"
Sie grinste: "Window Colours. Deshalb hat mich ein Bekannter auch heute mit dem Auto von Bonn nach Aachen mitgenommen; weil es in Bonn nicht den richtigen Laden für so was gibt. Hier schauen Sie mal!"
Und sie holte aus ihrer Tüte die Farben heraus und ein Heft mit herrlich kitschigen Weihnachtsmotiven.

Jetzt sah ich erst, dass ihr linker Arm verkrüppelt war. So wie bei Contergan-Geschädigten.

"Um nach Hause zurück zu kommen muß ich über Köln fahren.
Eine schöne Rundreise, nicht wahr! Meine Mutter wohnt in Köln. Ihr gehört dort am Dom die große Espritboutique. Können Sie sich das vorstellen? Und dann so eine Tochter!"

Mittlerweile hielt der Zug an der nächsten Station an.
Einige Männer unterschiedlichen Alters durchquerten unser Abteil auf der Suche nach Sitzplätzen. Nachdem sie im Nachbarwaggon nicht fündig wurden, kehrten sie in unser Abteil zurück und verteilten sich auf die wenigen noch freien Plätze. Ein paar blieben mangels derer stehen. Es schienen Arbeitskollegen zu sein, die den Freitagabend für einen gemeinsamen Altstadtkneipenbetriebsausflug nutzen wollten.
Sie waren bester Laune. Ein jüngerer Mann - auch nicht gerade schlank - quetschte sich neben unsere Dicke.
Ich dachte, hoffentlich geht das gut und die beiden kommen gleich noch einmal aus ihren Sitzen heraus!
Während die Männer herumblödelten kam der Schaffner und wollte die Fahrausweise sehen. Unsere Dicke kramte in aller Seelenruhe in ihrem Rucksack auf ihrem Schoß herum während der Kontrolleur geduldig wartete. Einer der Männer rief: "Herr Schaffner gehn se doch schon ma weiter. Dann hatter wat mehr Zeit un auf`m Rückweech kommen se noch ma vobei." "Meinen Sie...? Na gut." Und er entfernte sich tatsächlich.
"Na Jung, da hab isch Disch ja noch ma jerettet, wa?!"
"Ich bin kein Junge. Ich bin ein Mädchen!"
Mittlerweile hatte sie ihren Ausweis gefunden. Uns zugewandt sagte sie: "Das passiert mir immer wieder seit ich die Haare so kurz trage."
Und ich sagte: "Lassen Sie sich doch einen Nasenstecker machen. Dann erkennt man Sie vielleicht als Frau. Das würde bestimmt auch zu Ihnen passen."
"Was glauben Sie, was meine Mutter dazu sagen würde!! Die flippt dann aus!!!"

Nachdem sie uns noch über dies und das aus ihrem Leben informiert hatte, kamen wir in Köln an.
Wir wünschten uns gegenseitig noch einen schönen Abend, und sie verschwand aus unserem Leben, aber aus meinen Gedanken nicht.

Das Grönemeyer-Konzert war übrigens einsame Spitze.





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 12.08.2004
Kategorie: Kurzgeschichten

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