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Aicul Ibrahim, Teil III

Angelika Gentgen - 27.07.2003

Du warst auf der Hut vor deiner neuen Mutter, deren Wesen so viel resoluter war, als das deiner Lucia-Lichtermama.
Du nanntest sie immer Lucia-Lichtermama, weil sie an deinem Geburtstag, am 13. Dezember regelmäßig das gleiche Ritual vollzog und sich - genau wie die Mädchen in Schweden an diesem Tag - nur für dich weiß kleidete und mit einem Kranz brennender Kerzen auf dem Kopf und in den Händen mit dir durchs Haus zog.

Du warst auf der Hut vor deinem gestrengen neuen Vater, der wie ein Zeck im Gebüsch auf jede deiner Verfehlungen lauerte und sich dann auf dich stürzte, sich an dir festsaugte und dir so nachhaltig schadete, dass du heute noch an einer Seelenboriliose leidest.

Du warst auf der Hut vor deinen neuen Geschwistern - die sich meist als Spitzel erwiesen - und vor dem Hund und vor dem Goldhamster und vor deinen Klassenkameraden, die miteinander tuschelten und wenn du in ihre Nähe kamst sehr schweigsam wurden, zu schweigsam; so wie die elektrische Kaffeemühle bei deiner Lucia-Lichtermama, mit ihren Bohnen, die in der Mühle rumpelten und polterten und sich sobald der Ausknopf gedrückt wurde, schlagartig beruhigten.

Du verstecktest dich in deinen Büchern. In ihnen hatte das auf-der-Hut-sein Pause. Dein Tagebuch, das du gerne geschrieben hättest, befand sich nur in deinem Kopf.
Schlösser können aufgebrochen werden.

Du glaubtest und glaubst es auch noch heute, du seist es Heinrich Heine und deiner Lucia-Lichtermama schuldig ein Rebell zu sein.
Heinrich H. - wie du ihn nennst - wurde mit 170 Jahren Differenz am gleichen Tag geboren wie du. 1997, an seinem 200. Geburtstag wolltest du unbedingt nach Paris, wo er die letzten 25 Jahre seines Lebens exiliert gelebt hatte.
Du besuchtest ihn auf dem Montmarte-Friedhof. Er war noch nicht vergessen, frische einzelne Blumen und brennende Lichter zeugten hiervon.
Das Gedicht, welches er 20 Jahre vor seinem Tod, im Alter von 38 Jahren schrieb und was auf seinem Grabstein stand, verursachte dir eine Gänsehaut:

Wo wird einst des Wandermüden
letzte Ruhestätte sein?

Unter Palmen in dem Süden?
Unter Linden an dem Rhein?

Werd ich wo in einer Wüste
eingescharrt von fremder Hand?

Oder ruh ich an der Küste
eines Meeres in dem Sand?

Immerhin! Mich wird umgeben
Gotteshimmel, dort wie hier,

und als Totenlampen schweben
nachts die Sterne über mir.


Und du schautest hinauf, und sämtliche Sterne glitzerten nur für ihn!

(Fortsetzung folgt!)





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 27.01.2005
Kategorie: Kurzgeschichten

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