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Russendisco

Angelika Gentgen - 07.09.2006

Zu einer russischen Silberhochzeitsfeier sind wir eingeladen, zu einer geheimen russischen Silberhochzeitsfeier. Die Braut weiß nichts davon. Über Wochen haben alle dichtgehalten.

Er hat ihr gesagt, sie würden in die Eifel fahren, in eine kleine Jagdhütte eines Bekannten, und in der Nähe wäre ein edles Restaurant, dort hätte er einen Tisch bestellt. Sie solle sich ein schickes Kleid kaufen.

Samstags um 15.30 Uhr sollte die Feier beginnen in einem Bürgerhaus.
Als wir ankommen – kurz vor halb vier – ist das Fest schon in vollem Gange.
Wir stehen noch auf dem Parkplatz, und sobald sich die gut schallisolierte Tür öffnet, ertönt laute Russenmusik. Tür auf, Tür zu, Lautsprecher an, Lautsprecher aus.

Drinnen sind schon viele der Gäste, fast nur Russen. Einige halten eine apricotfarbene langstielige Rose in Händen. Das Brautpaar steht ganz vorne. Eine Dame in rot spielt den Conferencier. Wie heißt eigentlich die weibliche Form des Conferenciers? Conferencieuse?
Einige Damen tragen rot, rote Kleider. Und schwarz, schwarze Kleider. Alle hochhackige Schuhe.

Die Conferencieuse bittet nun die Gäste dem Brautpaar zu gratulieren, und jeder möge sich ein Glas Sekt nehmen. Fast alle übergeben ein Geldgeschenk in Form eines Umschlages, den sie in das Dach eines weißsilbern gebastelten Hauses stecken. Nur wir fallen aus der Rolle, schenken auch ein Geldgeschenk, aber in Form einer Glaskonfektschale, gefüllt mit Schoko-Bonbons und kleinen zu Zigaretten gedrehten Geldscheinen, die ich kunstvoll zwischen die Bonbons gesteckt habe, verpackt in Klarsichtfolie. Unser Geschenk steht während des ganzen Abends ziemlich verlassen neben dem Silberhaus. Ein paar Blumensträuße gesellen sich noch hinzu.

In der Kleiderfrage falle ich auch aus dem Rahmen. Ich trage eine Hose, bin zwar schick, aber nicht in Abendgarderobe (am Nachmittag).

Die Musik ist Livemusik. Ein Freund aus dem Dorf in Russland ist extra mit seiner Frau aus München angereist um auf der Hammondorgel zu spielen.
Ungefähr 100 Gäste zähle ich. Davon etwa 10 Deutsche. Wir setzen uns bewusst nicht an den Deutschentisch. Mittendrin soll`s sein. Die Tische sind groß, fast zu breit um sich zu unterhalten.

Gegen 16 Uhr haben alle Gäste Platz genommen und die Conferencieuse bittet zum kalt/warmen Buffet. Die Tische sind toll eingedeckt. Und auf jedem Tisch stehen am Anfang und am Ende des Tisches, der 16 Personen fasst, 1 Flasche Wodka, 1 Flasche Wasser, 1 Flasche Cola, 1 Flasche Limonade. Zusätzlich gibt es verschiedene Weine und Bier vom Fass.
Das warme Buffet bietet viel, aber nicht viel, was ich noch nicht kenne. Kleine ganze ungeschälte Kartoffeln in Öl geröstet gibt es. Bei den Salaten sind mir schon mehr unbekannt. Ziemlich scharfe Weißkohlblätter sind dabei, ein Salat, der aussieht, als wäre er mit Glasnudeln gemacht. Der Reihe nach probiere ich alles Unbekannte. Der Abend ist lang.
Immer wieder wird zwischendurch zum Buffet gebeten. Dazwischen wird getanzt. Und wie!
So also geht „Russendisco“, Vladimir Kaminers Russendisco. Wildes Tanzen, in einem großen Kreis. Irgendeiner macht immer Feetz in der Mitte. Auch die Männer sind eifrige Tänzer. Ab und zu gibt es langsamere Musik, zum Zusammentanzen.

Und Spiele gibt es dazwischen, und wieder Essen, und wieder Zuprosten. Und das auf russisch. Es fließt viel Wodka. Aber ich habe während des ganzen Abends nicht das Gefühl, dass jemand sich nicht mehr unter Kontrolle hat.

Die Conferencieuse führt entweder auf russisch oder auf deutsch durch das Programm.
Das Brautpaar ist natürlich Mittelpunkt. Sie sitzen an einem Extratisch, mischen sich aber im Laufe des Abends bunt unter das Publikum.

Braut und Bräutigam wurden geschmückt. Sie mit einer kleinen weißen Blumenspange im Haar, beide mit den dazu passenden Reversnadeln.

Ich tanze und tanze. Ich finde kein Ende.
Abends ziehen sich einige der Frauen um. Nun tragen sie Hosen.

Gegen 22 Uhr wird ein Kuchenbuffet aufgetragen, plus Kaffe oder Tee.
Russenkuchen. Am Liebsten würde ich an jedem Stück probieren.

Zwischendurch gab`s noch Fisch und Obst.

Die Musik ist fast nur russischer Art. Alle kennen die Texte und singen aus vollem Halse mit.
Das einzige deutsche Lied ist zu vorgerückter Stunde: „Kennst Du die Perle, die Perle Tirols? Das Städtchen Kufstein, das kennst Du wohl...“ Das können wir mitsingen.

Viele der Gäste stammen aus dem Dorf in Russland, aus ihrem Dorf.
Aus ganz Deutschland sind sie zusammen gekommen.

Die Eltern des Silberpaares sind auch da. Sie reden über Mikro. Die Mütter weinen. Der Vater wischt sich verstohlen die Tränen weg. Und die Braut sagt: „Ihr braucht doch nicht weinen!“

Und als nachher ihre erwachsenen Söhne über Mikro etwas sagen, da muss sie weinen.

Drei Generationen fühlen sich wohl bei diesem Fest.
Die Kids – sagt man zu 20 jährigen noch Kids? – führen mit dem Bräutigam eine Herzblattshow durch. Superwitzig. Witzig ist auch, dass der Bräutigam die Sendung gar nicht zu kennen scheint. 3 Jungs als Tunten verkleidet.

Nichte und Neffe – etwa 13 Jahre alt – führen als Überraschungsgäste Formationstänze vor. Perfekt, fünf Stück an der Zahl, fast ohne Pause. Da müssen wir weinen.

Gegen 24 Uhr verabschieden wir uns. Das Fest ist noch in vollem Gange.
Und beim Hinausgehen, als die Tür hinter uns in Schloss fällt, erlischt die Geräuschkulisse hinter uns, so als habe der alte Nachtwächter behutsam die Straßenlaterne abgedreht.





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 08.09.2006
Kategorie: Kurzgeschichten

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