Das unordentliche Gesicht

Das unordentliche Gesicht.


Ich bin ein ordentlicher Mensch. Ich liebe Ordnung an meinem Körper und in meinem Geist. Ich umgebe mich mit Ordnung und verabscheue Unordnung.

Du hast ein unharmonisches unordentliches Gesicht. Eigentlich ist die Fläche Deines Gesichts viel zu klein. Sie beherbergt eine hohe Stirn mit vier tiefen Querfalten, die bis zum Haaransatz reichen. Die Brauenbögen sind stark ausgeprägt; rechts stärker gewölbt als links. Die Brauen sind buschig, wachsen aber nicht an der Nasenwurzel zusammen, was auf ein sanftmütiges Temperament schließen lässt. Während die linke Augenbraue einem kleinen Hügel gleicht, strebt die rechte dem Haaransatz über der Stirn zu, wobei ihre Form an das Matterhorn erinnert.
Die linke Lidfalte fällt müde bis auf das Auge, das dadurch kleiner, fast schon etwas geschlossen wirkt.
Die Nase ist eher kurz als lang, dafür breit schon im Ansatz. Sie bleibt so stark bis zur Spitze, verbreitert sich jedoch kaum in den Nasenflügeln, die unausgeprägt, fast mickrig, die winzigen Nasenlöcher umschließen.
Dein Mund ist auffallend klein und harmonisch geformt. Die fein ausgeprägte Linie der Oberlippe verrät den Schöngeist.
Relativ große abstehende Ohren verhindern, dass man Dein Gesicht vielleicht doch als harmonisch wahrnehmen kann – was sonst durch den ausgeprägten Unterkiefer und den schlanken Hals durchaus möglich wäre.
Der meisterhafte Haarschnitt Deiner grauweiß melierten Haare wird die Wirbel nie beherrschen: Sie demonstrieren sichtbar den Freidenker, der sich nicht „stylen“ lässt.

Ich bin ein ordentlicher Mensch. Ich erfreue mich an Ordnung und verabscheue Unordnung – aber ich liebe Dein unordentliches Gesicht.


Inge Wrobel © 2013-10-19