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Blut

Gabyi - 2003

Nahezu jeden Tag, wenn der Vater Abends vom Katasteramt nach Hause kam, setzte es was.
Prügel oder Senge, wie er es nannte.
Meist empfing die Mutter ihn schon oben an der Treppe, wenn er unten die Haustür öffnete und noch nicht einmal die Wohnung betreten hatte, mit dem Ausruf:
"Albrecht, die Kinder waren wieder ungezogen."
Ihre Stimme hatte dann immer diese nörgelnde Schwebung in sich und war ganz kurz vorm Überschlagen.
Wie jeden Tag ging er dann die enge Treppe hinauf, stellte seine schäbige Aktentasche an die Wand, legte seinen Hut oben auf die Garderobenablage, zog seinen braunen Poppelinemantel aus und hängte ihn über einen notdürftig geleimten Kleiderbügel. Als nächstes griff er schon nach dem kleinen Kinderhandstock, der an der Hutablage baumelte.
Es war ein rot lackierter Holzstock, der aussah wie die Spazierstöcke von Greisen, nur kürzer und dünner. Die Farbe war vom häufigen Gebrauch schon ganz abgeblättert. Heute wäre so ein Spielzeug wahrscheinlich gar nicht mehr für Kinder zugelassen wegen der giftigen und umweltschädlichen roten Farbe.
Dann schlug er zu, ganz wie die Mutter es verlangte.
Die Hosen der Kinder mussten zu diesem Zweck heruntergelassen werden zur Steigerung der Effektivität. Weigerten sie sich, gingen die Schläge ungezielt auf den ganzen Körper nieder. Oft waren sie, ganz besonders das Mädchen, übersät mit hässlichen blauen Streifen und Striemen, die sie keinem zeigen durften. Weil sie damit ihr Nest beschmutzten.
In den Nestern, die das Mädchen kannte, wurden die Kleinen jedoch umsorgt, gehegt und gepflegt. Aber es war vielleicht nichts Besonderes an den Striemen, denn auch kleine Vögel konnten schließlich aus ihren Nestern fallen. Sonst hätte ihre Patentante sicher schon längst etwas gesagt, wenn sie ihr die nackten Beine zeigte. Normalerweise jedoch waren die Beine mit Strümpfen oder langen Hosen bedeckt.
Natürlich hatte sich die Mutter schon während des Tages, wenn der Vater noch arbeitete, redlich bemüht, die Kinder zu erziehen. Unter Zuhilfenahme von Kleiderbügeln und Kochlöffeln, den Werkzeugen, die ihr geläufig waren. Der Erfolg war aber nur mäßig und endete oft mit abgebrochenen Haushaltsgeräten, die von den Kindern unverzüglich ersetzt werden mussten. Als das Mädchen etwas älter war und endlich ein Sparbuch besitzen durfte, flehte sie manchmal die Mutter an, sie nicht zu schlagen, wenn sie ihr das Sparbuch schenkte. Es tat doch so weh. Aber es half alles nichts.
Wenn also die Erziehungsmühen des Tages nicht gefruchtet hatten, war am Abend endlich der Vater an der Reihe.
Oft tat er dem Mädchen schon leid, bevor er zu Hause war. Wenn die Mutter wieder einmal angedroht hatte:
"Wartet nur, bis euer Vater kommt! Dann kommt das große Strafgericht."
Von diesem Moment an lastete eine drückende Angst auf dem Kind.
Dann stand es oft oben am Eckfenster der Wohnstube und beobachtete den Vater, wie er um die Ecke in die Straße einbog und den Bürgersteig entlang aufrechten Ganges (die Mutter sagte oft, er läuft, als hätte er einen Spazierstock verschluckt)*, zum Haus ihres Großvaters ging, stocksteif vorbei an schuppenübersäten Fischfrauen, die aus der nahen Räucherei strömten, in Holzpantinen durch die Straße schlurfend, und ihn nicht beachteten, als er die Haustür öffnete. Noch war sein Gesicht ganz wohlgemut, doch schon beim Eintreten in das Haus verdunkelte sich seine Miene, das wusste sie schon.
Dann wurde sie ganz kurz etwas traurig.
Wenn der Vater dann zuschlug, schmerzte es viel stärker als bei der Mutter.
Sein Gesicht verzerrte sich zu einer beherrschungslosen Grimasse und die hellblauen Augen, an denen die Lider normalerweise eher matt herunterhingen, quollen jetzt aus dem Kopfe hervor. Ihr großer Bruder meinte, das sei bestimmt die Basedow' sche Krankheit.
Er hatte ein passendes Foto dazu in einem Lexikon gefunden. Wenn der Jähzorn den Vater erst einmal ergriffen hatte, gab es kein Halten mehr. Einmal erlitt er sogar einen Herzinfarkt und das Mädchen bekam die Schuld daran. Es konnte aber kein schwerer gewesen sein, denn er lebt noch heute quietschfidel.
Nie erkannten die Kinder den eigentlichen Grund für die Prügelattacken, denn sonst hätten sie doch vielleicht etwas verhindern können. Nur bei ihrem großen Bruder konnte man die Schläge eindeutig auf seine schlechten Schulleistungen am Gymnasium zurückführen.
Wenn er zum 'zigsten Mal immer noch nicht die Lateinvokabeln beherrschte, nahm der Vater seinen Kopf und schlug ihn mehrmals auf den Boden. Die Mutter wollte sich dann dazwischenwerfen und schrie:
"Nicht den Kopf, nicht den Kopf !"
Aber es nützte nichts, sie bekam sogar auch noch etwas von den Schlägen ab. Auf dem Höhepunkt des Exzesses schrie er:
"Ich schlag wie auf >Kalt Eisen<."
Niemand verstand so genau, was er damit meinte. Als das Mädchen ihn sehr viel später endlich danach fragte, erinnerte er sich nicht mehr daran, aber fand doch eine Erklärung:
"Kalt Eisen wird geschlagen, damit es verbogen werden kann."
Gern benutzte er auch folgende Redewendung, wenn Strafe drohte:
"Wartet, ich werd' euch helfen, wenn ihr nicht gleich spurt!"
Oder: "Ich werd' dir gleich helfen, wenn du nicht parierst."
Oder noch kürzer: "Ich werd' euch helfen!"
Und zur Bekräftigung trat er auf die Füße des Wehrlosen.
Dann kam: "Muss ich dir erst auf die Füße treten?"
Helfen konnte er ihnen damit aber gar nicht, eher das Gegenteil trat ein. Hilfe von Anderen begegneten die Kinder mit großem Misstrauen und nahmen sie nur sehr selten an.
Der Vater selbst hatte ein humanistisches Gymnasium besucht. Das stellte er regelmäßig nicht ohne Stolz heraus und wies auch stets darauf hin, dass früher noch mehr und anspruchsvoller gelehrt und gelernt wurde in den Schulen. Das Mädchen wusste nicht so genau, was humanistisch bedeutete, sie kannte nur human, und das hieß soviel wie menschlich. Aber das passte irgendwie überhaupt nicht.
Später sagte die Mutter oft, der Vater hätte dem großen Bruder den Verstand aus dem Kopf geschlagen, als aus ihm nichts Richtiges wurde.
Wenn das Mädchen Nachts in ihrem Bettchen lag, sie war gerade eingeschult worden, hörte sie immer wieder monoton die gleichen Vokabeln. Denn in ihrem Schlafraum, der gleichzeitig auch Esszimmer war, paukte der Vater regelmäßig mit dem Bruder Latein.
"Dominus, Domini, Domino, Dominum, Domine, Domino"
und bald kannte sie die Wörter in und auswendig und besser als er jemals in seinem Leben.
Doch es half nicht, auch sie blieb von Kopfangriffen nicht verschont.
Ihre Spezialbehandlung bestand in harten Ohrfeigen. Manchmal ohrfeigte der Vater sie so heftig, dass es laut knallte und das Blut in einem Schwall aus ihrem Kopfe schoss. Speziell aus der Nase, dann sah sie für kurze Zeit nur noch helle Sterne vor ihren Augen tanzen. Die Blutung war jedes Mal für lange Zeit nicht zu stillen. Sie musste ihren Kopf in den Nacken legen, damit es in den Magen und nicht auf den Teppich gelangte. Oft wurde ihr auch schlecht dabei und sie musste sich auf den Fußboden legen.
Dann sah sie nur noch die gekachelten, gewürfelten Socken ihres Vaters, deren auf dem Kopf stehende Quader und Rhomben in unterschiedlich fahlen Grautönen höhnisch auf der Spitze vor ihren Augen herumtanzten. Argyle.
Im Kampfgetümmel hatte er die Pantoffeln verloren. Der Teppich war trotzdem über und über mit ihrem Blut besudelt und sie bekam am Ende die Schuld daran.
Danach hatte sie immer wieder Nasenbluten, auch ohne Schläge. In der Schule spritzte ihr einmal beim Niesen ein Tropfen Blut während einer Mathearbeit aus der Nase, so dass ihre Lehrerin sehr besorgt war und das Mädchen sofort nach Hause schickte. Das verstand sie überhaupt nicht, so ein Aufstand bei dem bisschen Blut und sie schämte sich beinahe, so verpimpert behandelt zu werden.
Auch als sie sich während eines Schüleraustausches in Frankreich aufhielt, bekam sie wieder starkes Nasenbluten. Die Mutter ihrer Freundin schleppte sie - auch wenn sie sich wehrte - unverzüglich zu einem Arzt, der ihr sofort eine Ampulle mit Calcium verordnete. Manche Menschen waren doch sehr verweichlicht, musste sie wieder einmal feststellen. Der Gedanke, dass es sich vielleicht um ein ganz normales menschliches Verhalten handeln könnte, kam ihr überhaupt nicht in den Sinn.

* Der Stock, mit dem er geprügelt worden war ?

(Übereinstimmung von Namen und Schauplätzen dieser Geschichte mit wirklichen Personen und Orten sind purer Zufall)



Kalt Eisen (C)2002

Mit harter Hand schlug er mir ins Gesicht.
Ich taumelte, verlor mein Gleichgewicht.
Schon tanzten schwarze Punkte vor den Augen,
mein Schädel strudelte, dazu kam Ohrensausen.

Flugs schoss das Blut aus meinem Kopf,
dann riss er fest am meinem blonden Zopf.
"Na warte nur, ich werd' dir Beine machen,
beim Abendbrot gibt's nichts zu lachen."

Heiß rann der salzig-fahle Saft in meinem Schlund herab,
ließ sich durch keinen kalten Lappen stillen. Kam jetzt das Grab?
Ich spürte einen ekligen, weil blutmetallischen Geschmack.
Fast eine gute Stunde wartete ich, bis Gerinnung eintrat.

"Was fällt dir ein, den Teppich zu beschmutzen?
Die arme Mutter muss jetzt wieder putzen.
Behalt' das Blut gefälligst drin in deinem Leib.
Du quälst uns einfach nur zum Zeitvertreib.

Ich will nur eins, ich will, dass ihr pariert!"
Dabei hat er mein linkes Auge demoliert.
"Ich werd' dir helfen!" schrie er und schlug zu.
Kein Arzt half mir, kein Mensch hörte mir zu.

So ging es immer weiter, immer gleich, tagaus, tagein.
Und wenn es nicht so ging, war man zum Glück allein.
"Blutsauger seid ihr" und "Ich schlag wie auf kalt Eisen"
Oft wünschte ich mir dann, wir wären Waisen.

So sprach ein dummer, starrer, böser alter Mann,
niemals wird er begreifen, was er mir hat angetan.
Jetzt "lebt" er in der Hölle, Mitleid spür' ich nicht.
Sein Selbstmitleid reicht ihm. Sein Motto ist Verzicht.





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 12.11.2003
Kategorie: Kurzgeschichten

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