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Vom Ort, an dem die Zeit stehenblieb

Petra Friedel - August 2014

Vom Ort, an dem die Zeit stehenblieb

Da ist ein kleiner Ort, malerisch eingebettet in Wälder und Wiesen, an dem irgendwann die Zeit stehenblieb. Nicht, dass dort nicht gebaut und gewerkelt wird, fröhliche Feste gefeiert werden oder anderes lautes Leben stattfindet - da ist es wie in anderen Ortschaften auch: Aus den Häusern drängt am Morgen das Leben, verbreitet sich mit Lachen, Motorengeräuschen und lautem Kindergeschrei in Windeseile, um den Tag zu erobern. Und doch muss sie irgendwann genau an diesem Ort stehengeblieben sein, hat geschaut und geschaut und kam nicht mehr fort. Warum? Ich weiß es nicht, aber vielleicht kann ich es im Aufschreiben ergründen.

Die Bahnhofstraße

Der Unwissende vermutet in dieser Straße sicher den Bahnhof und gäbe es ihn, so würde auf dem Stationschild "Flechtingen" stehen. Aber auch bei genauer Betrachtung wird er kein Schild finden, denn einen Bahnhof gibt es in diesem Ortsteil nicht. Über den Kreisverkehr, der gut zu dem kleinen Kurort passt, da er selbst hübsch klein ausfällt, gelangt man in eben jene Straße ohne Bahnhof. Ortsunkundige könnten ihn auch, gewissermaßen als Zugang zur U-Bahn, unterhalb des Ortes vermuten, da mittig im Kreisel ein Kunstwerk steht, welches wie eine riesengroße, blechern-gleißende Tür aussieht. Aber es ist keine Tür, sie führt zu keinem unterirdischen Bahnhof. Und auch nicht zur öffentlichen Toilette, wie vor Zeiten Urlauber vermuteten; was bei den Einheimischen zu großer Erheiterung führte und, wie in kleinen Orten üblich, in denen sonst nicht viel passiert, eine ganze Woche lang Tagesgespräch war.
Biegen wir aber nun endlich in die Bahnhofstraße ein, über den Kreisel mit seinen vier Abfahrten und dem blechernen Türkunstwerk in der Mitte.
Still ist es, gerade so, als wäre hier die Zeit stehengeblieben, um nie wieder fortzugehen. Vielleicht, weil sie viel zu müde war, um weiter zu laufen. Der Tag ist heiß und der glatte und dunkle Asphalt versucht, über seinen blitzweißen Mittelstreifen die Hitze loszuwerden, was ihm nicht zu gelingen scheint: vielleicht ist die Zeit auch auf diese Weise steckengeblieben. Steckt und steckt und kommt nicht mehr fort. Sieht auf kleine, weißgetünchte Häuser, die ihre Hüte tief ins Gesicht gezogen haben, um der Hitze zu entfliehen. Auf junge, noch schlanke Bäume, deren Blätter müde herabhängen und nach Wasser lechzen. Und da die Bahnhofstraße eine lange und gerade ist, kann die Zeit sie vom Anfang bis zum Ende überblicken. Steht da und guckt und sagt nichts. Sieht rechter Hand den Garten, welcher ohne Zaun verlassen scheint und es dennoch nicht ist. Jedes Jahr im zeitigen Sommer kommt ein älterer Mann, der das hohe Gras mäht. Monat für Monat, bis zum September, dann sammelt er die unzähligen Birnen auf, die unter dem hohen Birnbaum liegen. Der ragt bis in den Himmel und gönnt seine Früchte nur den Vögeln, lässt sie ungern von den schlecht erreichbaren Ästen fallen. Bis er sie doch nicht mehr halten kann und sie in mit dumpfen Knall herunterpurzeln.
Ob die Zeit, wie sie da so still steht und nicht fortkommt, wohl ahnt, wie laut es an diesem stillen Ort sein kann? Vielleicht steht sie ja schon viel länger dort, ohne dass es irgendjemand ahnt und hat unendlich viel mit angesehen.

Fortsetzung folgt vielleicht ...





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 07.08.2014
Kategorie: Tagebuch

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