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Eine Weihnachtsgeschichte (II)

Petra Friedel - 2017

Dann griff sie beherzt hinein und zog etwas Zappelndes heraus, das unvermittelt zu Greinen begann: „Lass meinen Bart los, du dumme Trine! Aua, du reißt mir ja die Haare aus, lass los, habe ich gesagt! Nur einen Krapfen habe ich angeknabbert!“
Jetzt zeterte auch die Köchin: „Von wegen nur angeknabbert, der halbe Topf ist leer! Gleich werde ich dir … das wirst du bereuen … „
Plötzlich schrie sie auf: „Au, dieser Unhold hat mich in den Finger gebissen!“ Sie ließ das zappelnde Etwas erschrocken fallen. Darauf lief sie zum Wassertrog und ließ Wasser über den blutenden Finger laufen und suchte dann nach einem sauberen Leinentuch, um die Wunde zu verbinden.
Keiner hatte bemerkt, dass Genefa währenddessen nach dem winzigen Unhold griff, ihn in das Kleid von Ännli steckte und dieses an beiden Enden festhielt, damit er nicht entweichen konnte. Sie lief zur Tür und rief noch: „Bis bald, Fienchen, pass auf Ännli auf! Ich komme nachher wieder, wenn sich alle beruhigt haben!“ Stemmte sich darauf gegen die schwere Küchentür und verschwand im Gang, der zur Treppe ins Turmgemach führte.
Flink sprang sie diese hinauf und hielt Ännlis Kleid mit beiden Händen fest, so fest sie nur konnte! Was war sie neugierig, wer oder was das war! Beißen konnte es durch den dicken Samtstoff sicher nicht. Und wenn doch – erst in ihrer Kammer würde sie loslassen, soviel war gewiss!
Aber es war jetzt ganz still und regungslos unter dem Kleid. Im Turmgemach angekommen, schloss sie die Tür und legte das Kleid samt Inhalt vorsichtig auf ihr Bett. Sie setzte sich auf den Boden vor das Bett und wartete gespannt, was passieren würde.
Erst tat sich nichts, dann hörte sie ein leises Brummeln und das Kleid fing an, sich zu bewegen. Das Brummeln wurde lauter: „Ist das ein Elend, nichts gönnen sie einem! Nicht einmal einen einzigen Honigkrapfen! Dabei ist doch Weihnachten und da sollte man Liebe samt Krapfen schenken, wenn man ein gutes Herz hat! Und dunkel ist es hier, irgendwo muss doch ein Ausgang sein!“
Unter Ächzen und Stöhnen schälte sich etwas aus Ännlis Kleid: zuerst sah man zwei Beinchen herausschlüpfen, dann kamen Po und Oberkörper zum Vorschein. Ganz zum Schluss sah man einen wuscheligen weißen Haarschopf. Das ganze Ding war rückwärts herausgekrabbelt und drehte sich nun zu Genefa herum. Sah sie an und meinte: „Du hast mir wohl das Leben gerettet! Die dusselige Trine von Köchin hätte mich zu Brei geschlagen, hätte sie mich erwischt! Hat meinen Bart fast ausgerissen! Und warum? Wegen eines blöden Krapfens!“ Dann schwieg er und Genefa betrachtete ihn erstaunt. Wer war er? Er war sehr winzig und doch hatte er das Gesicht eines Großvaters. Sie nahm all ihren Mut zusammen und sprach ihn an: „Wer bist du und warum bist du so viel kleiner als ich?“
Der Kleine sah sie an, stand auf und reckte sich: „Paahhh, von wegen klein! Ich bin Egbrecht der Große! Unter den Meinen bin ich einer der Größten!“
„Wer sind die Deinen und wo wohnt ihr?“ fragte Genefa neugierig. Gab es gar ein ganzes Volk dieser kleinen Leute?
Ich gehöre zum Volk der Kobolde, es gibt Tausende von uns! Wir wohnen hier und da und überall! Vorsichtig sind wir, verstecken uns. Und wer sich versteckt, der will nicht gesehen werden! So kann ich dir nicht verraten, wo man uns findet. Jetzt verabschiede ich mich, hab Dank und auf Wiedersehen. Vielleicht bis auf bald einmal!“
Der Kobold machte Anstalten, vom Bett zu springen, aber Genefa versperrte ihm den Weg: „Nööö, Egbrecht, so geht das nicht! Ein Dankeschön genügt da nicht! Eigentlich würde ich jetzt mit Fienchen unten in der Küche spielen! Nur deinetwegen kam ich wieder hier herauf, du wirst jetzt an Fienchens Statt mit mir spielen müssen.“
Der Zwerg wickelte seinen langen weißen Kinnbart um seinen rechten Zeigefinger, während er die Stirn runzelte und schließlich sprach: „Ein Zwerg spielt nicht, Genefa. Schon gar keiner in meinem Alter, ich bin mittlerweile 466 Jahre alt! Aber ich habe eine Idee, wie ich Dir zu einem Spielkameraden im Turmgemach verhelfen kann. Ich bin dir Dank schuldig, du hast mich vor der Wut der Köchin bewahrt. Warte eine Sekunde, gleich geht es los!
Er zog einen silbrig glänzenden Fingerhut aus seiner Hosentasche, steckte diesen auf den Mittelfinger seiner rechten Hand und streckte diese nach vorn aus, während er sprach:

„Egbrecht und sein Fingerhut
machen ihre Sache gut:
Holen Ännli hier herauf,
setzen ihr ein Hütchen auf,
hängen einen Schleier an-
eine Fee sei sie sodann!“

Während der Kobold dies sprach, ging wie von Zauberhand die Tür auf und Ännli kam hereingeschwebt. Sie hatte ein weißes Kleid an, auf welchem wunderschöne, goldene Sterne glänzten. Auf dem Kopf trug sie einen spitz zulaufenden Feenhut, dessen Spitze ein weißer Schleier umwehte. Der Kobold sprach weiter:

„Eine Fee, die zaubern kann!
Fang mit ihr das Spielen an!“

Genefa stand wie gebannt und rührte sich nicht. Das Ännli eine Fee! Was tat der Zwerg denn da?
Der wandte sich jetzt wieder an sie: „Nun gehab dich wohl, Genefa, was ich dir schuldig bin, habe ich damit abgegolten!“ Sprachs, sprang vom Bett und war wenig später durch die Tür verschwunden. Genefa ließ sich erschöpft aufs Bett fallen und rieb sich verwundert die Augen. Hatte sie das wirklich erlebt oder nur geträumt?

Fortsetzung folgt ...





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 07.12.2017
Kategorie: Dies & Das

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