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Alle Jahre wieder

SergeD. - 2001

Alle Jahre wieder - ist Sommerschlußverkauf. Danach folgen ein paar sturmgepeitschte, verregnete Tage, in denen du nicht ins Kaufhaus gehst, weil du erstens von dem Rummel die Schnauze gehörig voll, zweitens ohnehin keine müde Mark mehr in der Tasche hast und drittens man bei diesem Wetter ja keinen Hund vor die Türe jagt. Sobald dann aber dein Vorrat an Tiefkühlpizza aufgebraucht ist und du zwangsläufig doch wieder durch die Ladentüre schreiten mußt, grinsen sie dir auch schon hämisch aus dem ersten Regal entgegen, stanniolverpackt und siegesgewiß, einer neben dem anderen: eine müßig herumstehende Horde - es mögen so rund vier Millionen sein - in den letzten Monaten eiligst umgeschulter Schokoladenosterhasen, jetzt in ihrem neuen Beruf und Outfit als Nikolaus. Du widerstehst der Versuchung, nach bekanntem Vorbild dein Handy zu zücken, um bei ihrer Gewerkschaft mal anzufragen: "Ja, hammer denn scho Weihnachten?", und gehst nur kopfschüttelnd weiter, aber dieses siegessichere Grinsen hat sich irgendwo in deine Hirnrinde eingenistet wie ein Menetekel: In nicht allzu ferner Zeit ist es also wieder soweit. Alle Jahre wieder.
Alle Jahre wieder denkst du dann - gemäß deiner nervenschonenden Angewohnheit, jeglichen Unbilden des Schicksals auch etwas Positives abgewinnen zu wollen -, daß es ja durchaus sein Gutes hat, schon so frühzeitig an das drohende Weihnachtsfest erinnert zu werden: Dadurch kannst du dich nun wenigstens in aller Ruhe nach Geschenken für deinen Schatz, für Kind und Kegel, Groß und Klein, Freund und Feind umsehen und ersparst dir diesen irren Streß wie beim letzten Mal. Denn heuer eilt es also wahrhaftig nicht; es sind ja noch... Mein Gott, wer plant denn schon so weit voraus?!
Alle Jahre wieder stellst du dir im Rahmen deiner adventsstrategischen Überlegungen irgendwann auch die Gewissensfrage schlechthin: Plätzchen selber backen oder kaufen? Selber backen hat leider ein paar unabweisbare Nachteile: es erfordert ekelhaft viel Zeit und Mühe, es geht immer irgend etwas schief dabei, und die Plätzchen sind immer bereits weit vor Heilig Abend von irgendwelchen anonymen Naschkatzen bis auf den letzten Krümel weggefuttert. Gekaufte Plätzchen wiederum schmecken mit Abstand nicht so gut und sind außerdem unverschämt teuer - wobei sich die Preise im Vergleich zum letzten Jahr zweifellos auch schon wieder erhöht, zuallermindest verdoppelt haben dürften.
Überhaupt!, stellst du alle Jahre wieder kritisch und nüchtern fest: dieses ganze Weihnachten ist doch mittlerweile zu einer einzigen Riesen-Konsumorgie verkommen. Es soll einmal Zeiten gegeben haben, da konnte man einem Kind noch mit ein paar Bratäpfeln, Nüssen, einer Puppe oder vielleicht einem Steckenpferdchen auf dem Gabentisch eine Freude bereiten! Heute geht da unter einem Harry-Potter-CD-Player, einem Harry-Potter-Computer oder wenigstens einem Harry-Potter-Mountain-bike gar nichts mehr. Auch Onkel Harry - Quatsch! - Onkel Herbert ist über seine alljährliche Krawatte nicht mehr so richtig begeistert. Wollte man aber diesen einen Fixposten verändern, müßte man quasi auch sämtliche anderen nachkorrigieren, denn das Geschenke-Gambit ist ein hochdiffiziles Gesellschaftsspiel und erfordert ebenso große Kalkulationskunst wie Fingerspitzengefühl. Hat nicht Tante Erna seit jenem unseligen Weihnachtsfest vor sieben Jahren jeglichen Umgang mit Kusine Klara eingestellt, nur weil sie sich damals mit einem etwas weniger exquisiten Eau de Toilette bedacht fühlte als diese? Und unter den Bälgern gibt es sowieso jedesmal eine Balgerei, weil natürlich jeder das Geschenk des anderen viel lieber bekommen hätte, andererseits aber aus Trotzköpfigkeit um keinen Preis zu einem Tausch bereit ist. Schluß damit! Heuer wirst du es allen sagen, klipp und klar: Ich will keine Geschenke von euch und ihr bekommt auch keine von mir! Was soll denn dieser alberne, lächerliche Tauschhandel? Ich jedenfalls mache diesen ganzen Weihnachtsblödsinn nicht mehr mit! - Apropos: das wäre ja schon lange ein Traum von dir: einfach mal abhauen an Weihnachten, fort, weit, weit fort in den Urlaub! Irgendwohin, wo es nicht den ganzen Tag regnet, stockfinster und bazillenkultivierend naßkalt ist, sondern sonnig, hell, warm und freundlich! Wo man nicht auf Schritt und Tritt über Adventsdekorationen und Christbäume stolpert, wo man vielleicht sogar Weihnachten überhaupt nicht kennt! Davonlaufen vor dem ganzen Zirkus, das wär's doch! Herrgott, das müßte man einfach einmal tun!, denkst du dir - alle Jahre wieder.
Und alle Jahre wieder wird es dann plötzlich eng, verteufelt eng! Denn da ist ja - fällt dir nun siedend heiß ein - vor den Feiertagen noch eine ganze Menge wichtiger Termine wahrzunehmen, dringender Sachen zu erledigen, die keinen Aufschub dulden bis zum nächsten Jahr. Mit Ausnahme von den Kaufhäusern - weshalb vergißt du das bloß alle Jahre wieder? - herrscht doch fast überall zwischen Weihnachten und Neujahr Betriebsurlaub! Also nochmal rasch zum Zahnarzt, zum Friseur sowieso, und am 31. 12. ist Wüstenrot-Tag. Gottseidank sind jetzt samstags die Geschäfte länger geöffnet, aber diese zusätzlichen zwei Stunden brauchst du alleine schon, um dich durch die einkaufswütigen Massen zu kämpfen. Warum müßt ihr eigentlich alle erst in letzter Minute...?! Die Fahrzeugschlange vor dem Parkhaus ist etwa einen Kilometer lang, Tendenz: steigend. An der Ladentüre erwarten dich noch immer die vier Millionen Keep-smiling-Nikoläuse, nur scheinen sie dich inzwischen um noch ein paar Grade hämischer anzugrinsen. Nun macht doch mal ein wenig Platz, Leute! Nein, das ist mein eigener Schal: leider unverkäuflich! Wühlen hier, zahlen dort! - Gleich als Geschenk einpacken? Oh ja, bitte, das wäre nett! - Probieren Sie unseren neuen Weihnachts-Glühwein mit Sylvesterknaller-Nachgeschmack! Keine Zeit, danke! - Rolltreppe hoch, Rolltreppe runter; Hoppla, Entschuldigung! - Ah, grüß Sie Gott, Frau... Ja, Ihnen auch frohe Weihnachten! - Paßt das eigentlich noch alles in den Kofferraum? Geschenkpapier besorgen! - Und nichts auf die lange Bank schieben: Pakete noch heute auf die Post! - Unglaublich: jetzt gibt es sogar schon Plastik-Christbäume zum Aufspannen! Christbäume?!! Au weiah: das Wichtigste fast vergessen! Das wär' ein schönes Fest geworden! Oh Tannenbaum! - Übrigens: Warum ist es noch nie einem Sachsen in England gelungen, einen Weihnachtsbaum zu erwerben? Weil die Verkäufer aus seinem "Ättännschen, blies" einfach nicht schlau werden! - Aber hallo: Mini-Tännschen, Maxi-Preis - oder wie?! Wer soll sich denn das noch leisten können? Berechnet ihr die neuerdings mit zehn Pfennig pro Nadel?! Kann ja wohl nicht wahr sein! Unverschämtheit! Und in vierzehn Tagen ab in den Container mit dem Luxusgerät! Das nennt man wirtschaften! - So, haben wir jetzt endlich alles? Wo ist denn schon wieder die verflixte Einkaufsliste?! - Nein, ich möchte nichts spenden für arbeitslose Osterhasen in der Mandschurei, ich bin selber völlig blank! - Nichts wie ab nachhause! Von wegen: Oh du fröhliche! Ja, Ihnen auch! Und guten Rutsch! Warum klemmt dieser verdammte Schirm denn immer, wenn man ihn braucht? Könnte es eigentlich zur Abwechslung auch mal nicht regnen? Früher, so wollen uns alte Märchenbücher glauben machen, habe es an Weihnachten noch geschneit, jawohl! "Leise rieselt" und so weiter. Aber da war es offenbar ja auch noch leise im Advent; kein solches Tohuwabohu. Ein wenig Lärm, aber heimeligen, stimmungsvollen, machte da höchstens der polternde Knecht Ruprecht, wenn er schwer beladen des Abends durch den tiefen Schnee dahergestapft kam, alle Jahre wieder.
Und kaum hast du dann alle Jahre wieder die Geschenke einigermaßen ansehnlich verpackt, den Christbaum mit dem Kabel der elektrischen Kerzen an seinen Platz gefesselt, die Weihnachts-CDs hervorgekramt, die Karten an Tante Lotti, deinen alten Schulfreund und - ganz klammheimlich - an diese reizende blonde Urlaubsbekanntschaft geschrieben, ein paar Leuten telefonisch ein frohes Fest gewünscht, heiß gebadet, dich ein bißchen festlich angezogen, die dumme fette Gans so elegant tranchiert, daß du ein ewiges Andenken an sie auf deinem besten Hemd herumtragen wirst - "Nächstes Jahr gibt es aber nun wirklich wieder Karpfen, Himmelherrgott!" -, deine Lieben geküßt und dich pflichtgemäß über ihre Geschenke gefreut - "Oh, Socken! Was für eine hübsche Überraschung!" -; kaum hast du dein Magendrücken und dein Sodbrennen wieder einigermaßen unter Kontrolle, den Riesenberg Geschirr abgespült, das zerfetzte Geschenkpapier und die Bänder hinterm Sofa und sonstwo hervorgefischt, den Tesafilm vorsichtig vom Wohnzimmertisch und der Tapete gelöst, die Socken in die passende Größe umgetauscht, und findest nun endlich zum ersten Mal seit langem wieder die Zeit, dich gemütlich in deinen Sessel zu fläzen, um Weihnachten zu genießen, da sagt dir ein zufälliger Blick auf den Kalender, daß dieses bereits seit mehreren Tagen Vergangenheit ist. Alle Jahre wieder.
Und alle Jahre wieder mußt du dir dann eingestehen, daß es genau dieselbe Hektik, dasselbe mechanisch abgespulte Ritual war wie jedesmal, und daß du nach diesen angeblich stillen und friedvollen Tagen völlig fix und fertig bist und Erholung bräuchtest. Und alle Jahre wieder fällt dir auch auf, daß du keinen einzigen Augenblick Gelegenheit gefunden hast, um nachzudenken, dir deiner selbst bewußt zu werden. Nun ja, vielleicht ist das letztendlich auch besser so; aber früher, erinnerst du dich, in deiner Kindheit zum Beispiel, da hatte Weihnachten noch einen Zauber, ein Geheimnis, etwas Faszinierendes, ja etwas Wundervolles. Etwas, das du nun schon seit Jahren vermißt und vergeblich suchst und erhoffst. Irgendwie, mußt du dir eingestehen, ist auch heuer wieder das Christkind, das du insgeheim doch so sehr ersehnt hast, mit seinem leisen Schlitten achtlos vorübergefahren an deiner Tür. Und vermutlich ist das deine eigene Schuld.
"Aber nächstes Jahr mache ich das endgültig anders, ganz anders: da gibt es endlich wieder ein richtiges, stimmungsvolles, besinnliches, streßfreies, entspanntes, fröhliches Weihnachten!", nimmst du dir felsenfest vor.
Alle Jahre wieder...





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 14.12.2004
Kategorie: Aktuelles & Zeitgeschehen

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