Rucksack-Lehre

Ich weiß noch: früher hatte ich einmal
ein völlig and'res Schönheitsideal,
fand Reines, Makelloses und symmetrisch
Geformtes, "Ordentliches" nur ästhetisch,
verging vor Scham, wenn etwas windschief saß,
ich einen Knopf zu schließen gar vergaß,
und hätt' am allerliebsten sozusagen
zwei Armbanduhren, links und rechts, getragen.

Dann aber, später, traf ich einen Mann,
der sah die Welt mit and'ren Augen an.
Schon sein Gesicht war wie von Wind und Wetter
gegerbt, sein Pulli ausgebleicht, als hätt' er
auf Berg- und Dschungelexpedition,
durch Meer und Wüste ihn begleitet schon.

Er wies mir seinen Lederrucksack stolz,
alt, fleckig und gemasert fast wie Holz,
und meinte, ja, es habe ziemlich lange
gedauert, bis der nicht wie von der Stange
mehr aussah, ramponiert, benutzt war tüchtig -
und er gefalle ihm erst jetzt so richtig:
Erst jetzt, mit seinen Flecken, Schrammen, Schrunden,
würd' er Charakter, Eigenart bekunden,
ein inhaltsreiches, vielbewegtes Leben.

Die Ansicht hat zu denken mir gegeben,
hat mein bisheriges Bild von der Welt
gewissermaßen auf den Kopf gestellt,
so daß mir plötzlich nun nicht mehr gefiel,
was hochglanz-makellos war und steril.
Jetzt wurde mir auch klar, was Frau'n bezwecken
mit künstlich applizierten Schönheitsflecken,
begann ich nachzudenken über Falten:
Was für Geschichten mögen sie enthalten?,
begann ich nachzudenken über Schrammen:
Aus welchen Kämpfen mögen sie wohl stammen?,
fand viel, viel int'ressanter nun, was nicht
dem Durchschnitts-Schönheitsideal entspricht.

Und heute sage ich in diesem Sinn,
daß ich vielleicht nicht eitel deshalb bin,
doch meine Narben, die auch mir das Leben
im Lauf der Jahre nicht erspart hat eben,
mit Überzeugung trage, selbstbewußt:
denn sie sind alle vorne, auf der Brust.