Auf-/zuklappen

Serenade

SergeD. - 1985

Wenn am Samstagnachmittag so himmlisch schön die Glocken vom nahen Kirchturm herüberläuten und die heiße Augustsonne den Lärm der Stadt gedämpft hat, rückt sie sich gern ihren Lehnstuhl ans offne Fenster; so, daß die warmen Strahlen auf ihre müden Beine fallen, denen die Treppen in den vierten Stock in letzter Zeit doch ein bisserl mehr zu schaffen machen als früher. Dann sitzt sie in ihren Gedanken versunken da; sitzt einfach nur so da und lauscht, und tut gar nichts. Das wär' ihr erst vor ein paar Jahren noch unerträglich schwergefallen: immer hat sie früher geflickt oder gestrickt, Strümpfe gestopft, Knöpfe angenäht, hundert Dinge gemacht, bis ganz allmählich die Menschen, für die sie so fleißig gearbeitet hat, entweder gestorben oder einfach nicht mehr zu ihr zu Besuch gekommen sind. Einen langen braunen Schal, auf dem sie einmal sitzengeblieben ist, hat sie seitdem selber jeden Winter recht gut brauchen können. Aber sich für sie selbst zu rühren, hat ihren alten Händen noch nie eine so große Freud' gemacht wie für andere, und drum wollen sie neuerdings wohl auch gar nicht mehr so richtig.
Auf der Kommode neben dem Fenster planscht ihr Hansi fröhlich krächzend in dem Plastikbadehäusel herum, das an seinem Käfig hängt. Sie lächelt. Auch wenn ihr Blick auf die Wand dahinter mit den beiden Schwarzweißfotografien fällt, die eine Trauerbinde über der einen Ecke ihres schwarzen Rahmens tragen, kann sie mittlerweile schon lächeln: links ihr Franz in seiner feschen Fliegeruniform - grad 24 war er geworden, wie er hat einrücken müssen; rechts ihr seliger Mann, der Alois, den sie damals kurz nach Martini beerdigt hat - aber das ist jetzt auch schon wieder - wieviel? - ja: zwölf Jahr' her! Wie die Zeit vergeht! Der kleine Bub aus dem ersten Stock schaut ein bisserl dem Franz ähnlich, und wenn sie ihm begegnet und er sie höflich, aber noch immer recht scheu grüßt, schenkt sie ihm jedesmal ein Karamelbonbon. Die kauft sie extra für die Kinder im Haus. Und als ob die gehört hätten, daß von ihnen die Red' ist, erheben sie drunten im Hof ein fürchterliches Indianergeschrei. Aber sie lächelt trotzdem, schließt die Augen und denkt an die Zeit, wo ihr Franz noch der lauteste und wildeste von ihnen war und meistens auch der schmutzigste, wenn er dann hungrig und mit einem spitzbübischen Grinsen unter seinem zerrauften blonden Schopf heimkommen ist zu ihr.
Nun hat der Hansi schon längst sein Bad beendet und sich mit dem Schnabel die Federn fein säuberlich trockengestreift; denn er weiß genau, wann es Zeit ist zum Abendessen, und daß er danach seine blaue Decke über den Käfig gelegt bekommt, unter der er schlummern kann, bis ihn die Morgensonne wieder weckt. Heut' aber wundert er sich, warum das Fenster immer noch offensteht. Ja schau: das Frauchen ist eingeschlafen! Unbeweglich sitzt sie dort drüben in ihrem Lehnstuhl und lächelt noch immer, lächelt genauso friedlich und sanft wie nun wieder die Glocken vom nahen Kirchturm herüberklingen zum Abendsegen.





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 02.08.2006
Kategorie: Kurzgeschichten

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