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Ein Mutterherz

SergeD. - 2005

Die Oma Loiblfinger hat ein Herz aus Gold. Das sagen alle vom Personal. Nicht bloß, weil die Oma Loiblfinger ihnen noch nie irgendwelche Schwierigkeiten gemacht hat. Sie kommt pünktlich zu den Mahlzeiten, pünktlich zu den Gesellschaftsnachmittagen und schläft abends pünktlich und problemlos ein. Aber die Oma Loiblfinger tut noch viel, viel mehr!
Jetzt zum Beispiel liegen etwa drei Dutzend Kastanien vor ihr auf dem Tisch, ein paar Zündhölzerl und Bastelwerkzeug. Es ist erstaunlich, wie einfallsreich und vor allem geschickt die Oma Loiblfinger in ihrem Alter noch diese kleinen, lustigen Kastanienmanschgerl baut. Man möcht direkt selber damit spielen! Aber das darf natürlich niemand! Denn die bastelt sie ganz allein für ihre Kinder. Alles macht die Oma Loiblfinger nur für ihre Kinder. Ein Herz aus Gold hat's, wie gesagt, oder einfach: ein Mutterherz. Immer findt sie was zum arbeiten, immer ist sie am Werkeln für ihre Kinder. Ob sie ihnen einen Apfelkuchen backt - denn den mögen's bsonders gern -, einen Schal strickt, wenn die kalte Jahreszeit ins Haus steht, oder Socken, wenn sie die alten schon für zu abgnutzt und zum Stopfen nicht mehr wert hält...
Ja, fünf Kinder halten eine Mutter ganz schön auf Trab! Fast täglich kommt eins dahergrannt mit einem Kummer auf seiner kleinen Seel: sei es, daß die Lieblingspuppe einen Arm verloren hat, der große Nachbarsbub wieder frech war oder der Herr Lehrer in der Schul wieder einmal gschimpft hat. Dann setzt sich die Oma Loiblfinger in ihren schweren blauen Ohrensessel im Eck, manchmal auch, wenn es schön ist draußen, in den Schaukelstuhl auf der Veranda, und redet mit ihrem Sorgenkind. Sie tröstet es so lieb, daß die Schwester Elvira schon ein paarmal weinen hat müssen beim Zuhören; denn ihr Büro liegt im Parterre gleich hinter der Veranda, und so ist sie schon oft unabsichtlich Zeugin solch einer mütterlich-herzlichen Trostansprache gworden, wenn sie im Sommer das Fenster gekippt ghabt hat.
Ja, alle mögen sie, die Oma Loiblfinger. Sogar in dem bärbeißigen Kommentar vom Herrn Veitsböck, dem schlimmsten Grantler im Heim, schwingt ein hörbarer Respekt mit angesichts der liebevollen, gar nicht mehr enden wollenden mütterlichen Ratschläge und Ermahnungen: "Is die Loiblfingerin wieder am Spinnen?"
Was heißt schon "Spinnen"? Es ist eben ein harter Schlag gwesen damals und bestimmt nicht leicht zu verkraften für solch ein goldenes Mutterherz wie das von der Katharina Loiblfinger, und jedermann wird ihr deshalb gwiß ihre kleinen Spinnereien heut nachsehen, ihre rührende, unermüdliche, aufopfernde Arbeit seit Jahrzehnten jetzt schon und bis zum heutigen Tag für niemand anders als ihre Kinder - auch wenn die alle fünf mitnander damals umkommen sind in der Nacht bei dem Fliegerangriff.





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 21.08.2007
Kategorie: Kurzgeschichten

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