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Es war einmal ... Eine Hommage an die Brüder Grimm

SergeD. - November 2010

Es war einmal ...

Eine Hommage an die Brüder Grimm




1. Das Märchen von Großmutters Deutsch

Es war einmal vor vielen, vielen Jahren,
kurz nach den Dinos, Feuersteins und Co,
zur Zeit von Cäsar, Zorro oder so,
als voller Wölfe noch die Wälder waren,

Prinzessinnen es gab in hellen Scharen
und Zauberer und Hexen anderswo,
da drängten abends sich die Kinder froh
um Großmama, ein Märchen zu erfahren.

Und die gewährte lächelnd das Gesuch,
ergriff die Brille und das Märchenbuch
und las. Und alle lauschten ihr gebannt.

Jawohl: sie las! Und zwar auf Deutsch! So weit
liegt das zurück schon! Ja, es gab die Zeit,
als Deutsch man hier noch sprach, schrieb und verstand.



2. Das Märchen von zwei Freunden und zwei Brüdern

Als Deutsch man hier noch sprach, schrieb und verstand -
das Simsen hatte keiner noch gecheckt,
Kolumbus noch das Denglisch nicht entdeckt -,
da einte das vom Krieg zerzauste Land

ein junges, hoffnungsfrohes Geistesband:
Die Neugier auf Kulturgut war geweckt,
das tief seit alters her im Volksmund steckt
als gleichsam nationales Einheitspfand.

Zwei Freunde, Arnim und Brentano, sammelten
Gedichte, die im Volk die Alten stammelten,
als Buch "Des Knaben Wunderhorn" genannt.

Noch mehr gefiel ein Märchenbuch indes.
Wilhelm und Jakob Grimm verfaßten es,
ein Brüderpaar, das Freude daran fand.



3. Das Märchen von der Geburt der Germanistik

Ein Brüderpaar, das Freude daran fand,
den Sagenhort des deutschen Volks zu heben,
hat auch auf Wörtersammlung sich begeben -
und ein enormes Wörterbuch entstand.

Nach Jahren erst erschien der letzte Band.
So wurden - ohne dieses anzustreben -
die Väter sie der Germanistik eben,
die Brüder Grimm. Welch Dienst am Vaterland!

Ein jeder, dem die deutsche Sprache lieb,
konnt' fortan, was genau ein Wort beschrieb
und wie man's selbst schrieb, von den Grimms erfahren.

Weltweit jedoch ward jenes Buch gelesen,
bei dem es ihr erklärtes Ziel gewesen,
den Märchenschatz der Deutschen zu bewahren.



4. Das Märchen vom dummen Bewahrenwollen

Den Märchenschatz der Deutschen zu bewahren -
wer käme heute noch auf die Idee?!
Allein das Wort "bewahren" schon tut weh:
Wir brauchen Fortschritt, steten, nachweisbaren!

Und Märchen können wir erst recht uns sparen!
Heut' gucken Kinder Action-DVD.
Zuhören oder Lesen ist passé.
Ein Kid braucht Fun in den Entwicklungsjahren!

Und morgen kommt im Fernsehn Harry Potter;
na bitte! Cooles Märchen, keine Frage!
Wen juckt, wer Hans im Glück, Rapunzel waren?!

Spott, bestenfalls verlegenes Gestotter
wohl erntete, wer auszög' heutzutage,
vom Volk selbst seine Märchen zu erfahren.



5. Das Märchen von einer Zeit ohne Technik

Vom Volk selbst seine Märchen zu erfahren,
war damals nicht so einfach. Heute hätt'
man E-Mail, Handy oder Internet
und könnt' sich so viel Zeit und Müh' ersparen.

Doch fleißig wie die Grimms nun einmal waren,
benötigten sie Laptop nicht noch TED.
Wie für ihr Wörterbuch von A bis Z
erbrachten hier das Opfer sie von Jahren.

Wer steckte heute so viel Zeit und Kraft
in Märchen, weihte so gewissenhaft
sich solch naivem Forschungsgegenstand!?

Mag sein, daß eine Fee im Traum sie rief,
mag sein, im tiefsten Herzen selbst naiv,
durchwanderten die Brüder Grimm das Land.



6. Das Märchen von der universitären Forschungsfreiheit

Durchwanderten die Brüder Grimm das Land
vielleicht - wie heut' man Leute interviewt -,
weil da ein Meinungsforschungsinstitut
und Kohle, "Sponsoring" dahinterstand?

Von wegen! Nur das Herz im Leib entbrannt
war ihnen, sie beseelte frischer Mut.
Solch Pioniergeist tät' auch heute gut.
Doch heut' hängt Forschung längst am Gängelband.

Der harte Zwang, "Drittmittel" zu erwerben,
läßt universitäre Freiheit sterben.
Kultur ist wirtschaftlich nicht relevant.

Das Volk wird heute höchstens noch bespitzelt:
Ist das ein GEZ-Mann, der da kritzelt
mit off'nem Ohr, Notizblock in der Hand?



7. Das Märchen vom Märchenüberliefern

Mit off'nem Ohr, Notizblock in der Hand,
so stöberten von Dorf zu Dorf in Schenken
die Brüder Grimm Erzähler auf von Schwänken
und schrieben nieder, was an Stoff sich fand.

Die meisten Märchen im Erzählbestand
jedoch besaßen - nun, das läßt sich denken -
die alten Omas auf den Ofenbänken,
Scheherazads in schlichtem Volksgewand.

Und was die selbst in ihren Kinderjahren
Großmütterchen erzählen hörten schon,
vererbt von einer Generation

zur andern: Märchen, mündlich stets tradiert,
das haben nun zwei Herren aufnotiert,
geschichtenwißbegierige Scholaren.



8. Das Märchen von der "geistigen Elite eines Landes"

Geschichtenwißbegierige Scholaren -
man stelle sich das heute vor! Mitnichten
hat Zeit heut' ein Student noch für Geschichten.
Er soll ja möglichst Zeit - heißt: Kosten - sparen,

soll Bättschler sein nach maximal zwei Jahren,
um schleunigst seine Steuerzahlerpflichten
an Deutschlands leeren Fiskus zu entrichten. -
Bloß wandern Graduierte aus in Scharen ...

Crash-Uni! Fit for job in vier Semestern!
Kultur- und Bummelstudium war gestern!
Unprofitables gilt es auszujäten!

Welch Dichter-, Denker-, Geistesblütenmeer
sproß einst an Deutschlands Universitäten!
Doch das ist viele, viele Jahre her ...



9. Das Märchen von Kultur statt Kohle

Doch das ist viele, viele Jahre her,
daß an den deutschen Universitäten
Studenten das Philisterdasein schmähten,
nicht Job und Geld erstrebten, sondern mehr.

Heut' will man Kohle scheffeln, bitte sehr,
beim Tanz ums gold'ne Kalb sich nicht verspäten.
Was Politik und Planwirtschaft da säten,
wird bitt're Ernte bringen, fürcht' ich schwer.

Die Schulzeit wird gekürzt, das Studium
beschleunigt: alles geht heut' viel geschwinder.
Wie waren doch die Leute früher dumm!

Die bildeten sich ganz unökonomisch
und sprachen Deutsch statt Englisch noch, wie komisch!
Man nannte damals, denkt!, die Kids noch "Kinder".



10. Das Märchen vom unverdenglischten Deutsch

Man nannte damals, denkt!, die Kids noch "Kinder".
Das macht uns schon der Titel "Kinder- und
Hausmärchen" jener Grimm'schen Sammlung kund.
Da waren noch die Deutschen weitaus minder

begeisterte Neu-Denglisch-Selbsterfinder,
ihr Sprachgefühl intakt noch und gesund.
Heut' leiden sie an Schreib- und Ausdrucksschwund
und folgen der Verblödung immer blinder.

Gewaltig würden heut' ob dieser schlimmen
Entwicklung wohl die Brüder Grimm ergrimmen;
sie liebten ihre deutsche Sprache so!

Heut' glaubt man's kaum mehr, doch zu ihrer Zeit,
da lag Amerika noch meilenweit.
Noch keinen Gameboy gab's, kein Video ...



11. Das Märchen, daß Kinder Märchen bräuchten

Noch keinen Gameboy gab's, kein Video,
als Großmama am Abend Märchen las
und rings um sie die Schar der Kinder saß,
begierig lauschend, bangend erst, dann froh,

wenn jene böse Hexe lichterloh
verbrannte, die geback'ne Kinder fraß,
wenn Lohn und Strafe sich gerecht bemaß
zuletzt; denn alle Märchen enden so.

Längst wissen Psychologen es, wie sehr
den Kindern diese alten Märchen nützten,
die Reifung ihrer Seele unterstützten
durch ihren tief symbolischen Gehalt.

Was hilft's? Moderne Kids läßt sowas kalt.
Heut' braucht zum Glück man keine Märchen mehr.



12. Das Märchen vom Phantasiekillen

Heut' braucht zum Glück man keine Märchen mehr.
Die sind so antiquiert wie Haferschleim.
Die Kids bedröhnt man heut' mit "Sex and Crime"
per DVD, anarch-autoritär.

Damit ersticke man, behauptet wer,
die Phantasie der Kinderchen im Keim?
Grundfalsch! Wie im Computerspiel daheim
schießt Junior das Klassenzimmer leer.

Nun fräße zwar der Wolf Rotkäppchen auch,
man füllt' ihm Wackersteine in den Bauch -
und doch sind Märchen uncool, viel gelinder

als was im Fernsehn kommt, im Comic steht.
Und drum sind Märchen eben obsolet -
die Märchenomas und ihr Deutsch nicht minder.



13. Das Märchen von den coolen Kids und den Gruftis

Die Märchenomas und ihr Deutsch nicht minder
sind out, gehören heut' aufs Altenteil.
Was abgeht, haben Gruftis keinen Peil.
Und Märchen sind doch Kram für Wickelkinder!

Die Kids sind ihre eig'nen Spracherfinder
und Pseudo-Englisch unser aller Heil.
"Ihr Daddy war Broombondager" klingt geil -
und nicht: "Ihr Vater war ein Besenbinder".

Schön blöd, wer heut' noch tut, was Eltern sagen!
Stiefmütter kann man vor Gericht verklagen
und Wölfe trifft man höchstens noch im Zoo.
Der Wald ist krank und längst verdammt zum Sterben.

Und Legastheniker sind uns're Erben:
"Cool! Gucksdu, Alder, wa? Nix Grimm und so!"



14. Das Märchen vom Deutschland, das Deutsch abschafft

"Cool! Gucksdu, Alder, wa? Nix Grimm und so!"
Kein Wunder, daß die Jugend Deutsch echt ätzt,
sie Sprache nicht mehr als Kulturgut schätzt:
Kein Volk tritt seine Sprache derart roh

mit Füßen wie das deutsche. Den K.O.
hat eurem armen Deutsch, ihr Grimms, zuletzt
die Schlechtschreibreformiererei versetzt.
Seither ist Deutschland sprachlich am - - - Popo.

Keins eurer Märchen endet derart schlimm
wie jener Sprache Los, die zu bewahren
ihr damals strebtet, liebe Brüder Grimm.

Vor Gram würd' euch das Herz im Leib zerbrechen.
Welch frommer Wunsch, daß Deutsche Deutsch auch sprechen!
Es war einmal - vor vielen, vielen Jahren ...



15. Das Märchen vom Märchensammeln der Brüder Grimm

Es war einmal vor vielen, vielen Jahren,
als Deutsch man hier noch sprach, schrieb und verstand,
ein Brüderpaar, das Freude daran fand,
den Märchenschatz der Deutschen zu bewahren.

Vom Volk selbst seine Märchen zu erfahren,
durchwanderten die Brüder Grimm das Land
mit off'nem Ohr, Notizblock in der Hand,
geschichtenwißbegierige Scholaren.

Doch das ist viele, viele Jahre her.
Man nannte damals, denkt!, die Kids noch "Kinder".
Noch keinen Gameboy gab's, kein Video ...

Heut' braucht zum Glück man keine Märchen mehr,
die Märchenomas und ihr Deutsch nicht minder.
Cool! Gucksdu, Alder, wa? Nix Grimm und so!





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 05.12.2010
Kategorie: Märchen & Fabeln

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