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Die Puppe

SergeD. - 1998

Lieber Richard!

In diesen Stunden quälenden, untätigen Wartens habe ich beschlossen, Dir spät, aber dennoch den folgenden Brief zu schreiben - einen Brief, den ich Dir am liebsten selber übergeben würde - das heißt: am allerliebsten dann vielleicht auch wieder nicht! Denn ich möchte Dir in ihm eine seltsame Geschichte erzählen, die ich Dir bis heute verschwiegen habe, obwohl sie mich gerade in den letzten Wochen sehr beschäftigt hat. Du wirst, wie ich ja auch, sagen, daß es sich um eine harmlose und absolut unbedeutende Verkettung lächerlicher Zufälle handelt; und eben aus Angst, Du könntest mich auslachen, mich für kindisch, abergläubisch, verrückt oder hysterisch halten, werde ich Dir am Ende die Geschichte vielleicht doch nicht zu lesen geben...

Alles fing damit an, daß irgendwann, als ich noch auf das Gymnasium ging, der Standort des Christkindlmarktes innerhalb unserer Stadt verlegt wurde; nämlich sozusagen genau vor die Pforte dieser Schule. Selbstverständlich trieben wir Mädchen uns nun in der Adventszeit während der großen Pause oder in Freistunden nur zu gerne zwischen den verlockenden Bretterbuden voller Christbaumschmuck, Weihnachtskrippen, Lebkuchen und Geschenken herum, und die Mutigsten wagten auch schon einmal, sich einen von den Lehrern streng verbotenen, aber herrlich nach Gewürz duftenden und verrucht nach ein bißchen Alkohol schmeckenden Becher Glühwein zu kaufen.
Eines verschneiten Tages, als meine Freundinnen und ich beim Schlendern durch die kleine Budenstadt bis in den hintersten und finstersten Winkel gelangt waren, rief eine von ihnen: „Seht mal: da sitzt ja Marianne!“ Sie stand vor einer Auslage, auf der es neben Zwetschgenmännchen und Krippen auch altmodisches Kinderspielzeug zu bestaunen gab, darunter eine entzückende Puppenstube mit Miniaturmöbeln im Stil der Gründerzeit. In diesem Zimmerchen saß auf einem kleinen Stuhl ein Püppchen, das nach einhelliger Ansicht meiner Freundinnen eine verblüffend große Ähnlichkeit mit mir aufwies - nach meiner weniger, obwohl ich, zugegeben, die gleiche Haarfarbe besaß und dieselbe Frisur trug. Ich versuchte, die Spottdrosseln rasch weiterzulotsen; denn abgesehen davon, daß ich mich nicht gerne mit einer unselbständigen Puppe vergleichen lassen wollte - schließlich war ich mit meinen fünfzehn Jahren beinahe schon erwachsen -, erschreckte mich auch insgeheim die steinalte Besitzerin der Bude ein wenig: sie sah mit ihrem zahnlückigen Lächeln, ihrem verwitterten, dunkelhäutigen Gesicht und dem schwarzen Kopftuch aus wie eine Zigeunerin; auf kleine Kinder muß sie geradezu wie eine Hexe aus dem Märchenbuch gewirkt haben. Meine Freundinnen lachten und führten mich nun jedesmal, sooft wir auf den Christkindlmarkt gingen, zu meinem Miniatur-"Ebenbild" in der Puppenstube der unheimlichen Alten, um ein ums andere Mal vergnügt neue angebliche Parallelen zwischen ihm und mir zu entdecken.
Vielleicht verirrten sich nur wenige Besucher in diese finstere Ecke des Marktes oder die Puppenwohnung erschien ihnen nicht als geeignetes Weihnachtsgeschenk für ihre Kinder - in der Tat war sie eigentlich viel zu schön und kostbar, um als bloßes Spielzeug zu dienen -: jedenfalls sah ich fortan Advent für Advent meine noch immer unverkaufte Puppe wieder. Im letzten Schuljahr nun spielten mir, so glaubte ich wenigstens damals, meine Freundinnen einen kleinen Streich. Aus Zufall, oder irgendeinem Modetrend folgend, trug ich nämlich seit Anfang des Winters eine neue Frisur, so daß ihrem gewohnten Heiterkeitsausbruch angesichts der vermeintlichen Ähnlichkeit zwischen jener Puppe und mir diesmal der Boden entzogen sein würde. Aber offenbar kamen sie mir zuvor und fanden Gelegenheit, die Budenbesitzerin darüber zu informieren; denn als wir zum ersten Mal in jenem Jahr den Christkindlmarkt besuchten und, selbstverständlich, wieder die Puppenstube ansehen gingen, hatte auch, zu meinem nicht geringen Schreck und umso größerem Gaudium der anderen, meine kleine Doppelgängerin ihre Haartracht verändert und trug sie erneut genau so wie ich. Die Zigeunerin, die mit jedem Jahr noch runzeliger und unheimlicher geworden war, grinste mich mit ihrem löcherigen Gebiß freundlich an wie eine alte Bekannte. Außer der Veränderung meiner Frisur mußten ihr meine Kameradinnen auch verraten haben, daß uns im kommenden Frühjahr das Abitur bevorstand; die Puppe hielt nämlich diesmal eine Art kleiner Urkunde in ihren Händchen und blickte strahlend auf das Pergamentblättchen nieder. Natürlich beteuerten alle, vollkommen unschuldig an dieser Überraschung zu sein und nie und nimmer hinter meinem Rücken mit der Alten gesprochen zu haben, aber ich glaubte ihnen freilich kein Wort.
Nach dem Abitur zerstreute uns das Leben in alle Winde, und ein paar Jahre kam ich, allein und ohne einen Anstoß von außen, irgendwie einfach nicht mehr dazu, den Christkindlmarkt zu besuchen. Bis ich eines Tages im Dezember, nur zum Scherz, doch einmal nachzusehen beschloß, ob es eigentlich meine Puppe dort noch gäbe. Ich weiß also nicht, ob die Veränderung in ihrer Stube nur für mich neu war oder vielleicht auch die Winter davor schon bestanden hatte. Die alte Zigeunerin lebte immer noch und grinste mich so verschrumpelt und hexenhaft an wie eh und je, aber in dem Zimmerchen stand neben meiner Puppe nun eine zweite, offensichtlich männliche. Gewiß war es ein Zug der Zeit, daß die einstige strikte Trennung zwischen Mädchen und Jungen bei der Kindererziehung aufgegeben wurde - auch Jungen durften neuerdings mit Puppen spielen, und so überschüttete sie der Markt gerade mit karatekämpfenden Mini-Helden -, aber erstaunt und, ich muß sagen: sogar etwas entrüstet darüber, jetzt "meine" Puppenstube mit einem "Mann" teilen zu müssen, war ich dann doch. Der Anblick kam mir unweigerlich wieder in den Sinn, als ich im darauffolgenden Fasching Dich kennenlernte, und erneut, als wir dann im Sommer heirateten.
Mit zwiespältigen Gefühlen, einerseits irgendwie neugierig, andererseits über mich selber lachend und mich der albernsten Naivität bezichtigend, vielleicht aber auch ein wenig ängstlich, pilgerte ich im nächsten Advent wieder zu der Alten. Du kannst Dir nun womöglich schon denken, was es diesmal in der Puppenstube Neues gab. Von dem Moment an, als ich die beiden niedlichen Puppenbabys mit ihren stolzen Eltern sah, wußte ich felsenfest, daß es Zwillinge sein würden. Gleichzeitig befiel mich aber auch ein eisigkaltes Grauen vor dieser Zigeunerin mit ihrem seltsamen, offenbar nur für mich persönlich bestimmten Orakel.
Dieses Grauen oder schlicht die viele Arbeit, die zwei kleine Kinder machen, hielt mich nun wieder ein paar Jahre von der ominösen Bretterbude fern, bis ich - Du erinnerst Dich vielleicht daran - unsere Beiden im vergangenen Advent zum ersten Mal in ihrem Leben auf den Christkindlmarkt führte. Nie werde ich ihre großen Augen angesichts all der Herrlichkeiten vergessen; sie konnten sich nicht sattsehen und fühlten sich ein bißchen wie im Kinderparadies. Von Stand zu Stand zogen mich ihre kleinen Händchen; aber auch noch etwas anderes, Geheimnisvolles und Unerklärliches führte mich unweigerlich in jenen hintersten Winkel des Marktes, in dem ein ganz bestimmter Bretterverschlag mir nun schon seit meinen Jugendtagen ein Gefühl der Beklemmung verursachte. Und schließlich standen wir davor. Ich erkannte die Bude - von denen rein äußerlich ja eine der anderen zum Verwechseln ähnlich sieht - an der Auslage wieder: dieselben Zwetschgenmännchen, dieselben Weihnachtskrippen und...
„Suchen Sie etwas Bestimmtes, gnädige Frau?“ fragte mich ein dunkelhaariger, südländischer Mann mittleren Alters mit der etwas aufdringlichen Geschäftstüchtigkeit und übertriebenen, verdächtig erscheinenden Höflichkeit eines Hausierers. „Entschuldigen Sie, aber diesen Stand führte doch früher, über lange Jahre hinweg, eine ältere Dame?“ erkundigte ich mich, um ihn abzulenken, während ich in jede Ecke seines Verschlages nach der Puppenstube spähte. „Ganz recht“, erwiderte er, „meine Mutter verkauft auch noch immer; nur fühlte sie sich heute morgen nicht wohl, so daß ich ihre Vertretung übernommen habe. „Sie sind eine alte Kundschaft von ihr?“ „Sozusagen“, lächelte ich. Und da entdeckte ich die Puppenstube. Sie war hinter zwei großen Krippen plaziert, wo sie niemals irgendeinem Käufer ins Auge gefallen wäre; gerade so, als hätte jemand sie dort verstecken wollen. „Darf ich einmal dieses Puppenzimmer dort sehen?“ „Wo? Ach dieses! Mein Kompliment zu Ihrem Scharfblick, verehrte gnädige Frau: eine echte Antiquität! Insofern ein wahres Schnäppchen für einen Preis von nur...“ Zum Glück nannte er mir einen so hohen Betrag, daß ihm mein Erblassen nicht allzu unplausibel erscheinen konnte. „Gibt es denn dazu nicht noch eine weitere Puppe?“ „Nicht daß ich wüßte, gnädige Frau; nur diese drei! Sie können sich allerdings auch gerne morgen bei meiner Mutter erkundigen, die besser über das Sortiment Bescheid weiß - falls sie sich morgen schon wieder in der Lage fühlt, den Stand zu führen.“ Ich dankte verwirrt und
Leider muß ich hier schließen, da man mich soeben zur Anästhesie holt. Der Herr Professor versichert mir gerade zu meiner Beruhigung noch einmal, daß es sich um einen ganz unkomplizierten Eingriff handelt. Also bis später, mein Schatz!

In Liebe
Deine Marianne


Diesen merkwürdigen Brief übergab mir in einem verschlossenen Kuvert die Stationsschwester, als ich die Sachen meiner Frau abholte, mit einer diskreten Beileidsbezeugung.





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 20.12.2007
Kategorie: Kurzgeschichten

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