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Die Landung

SergeD. - Jan. 2005

Es geht mir gut. Nächsten Monat werde ich achtzig und ich fühle mich geistig und körperlich fit, den Umständen entsprechend: Es geht mir gut. Möglicherweise besucht mich sogar der Verteidigungsminister, um mir zu gratulieren! Die Heimleitung wird mir eine Geburtstagstorte schenken, mit einer Achtzig aus Schlagsahne darauf und einer Kuchengabel dazu. Kein Messer. Sie geben mir nie ein Messer, auch nicht zu den anderen Mahlzeiten; ein Pfleger schneidet mir alles vor. Aber damit kann ich leben. Damit lebe ich nun schon seit sechzig Jahren. Ich brauche kein Messer. Es geht mir gut.
Es geht mir gut, solange sie mich nicht versehentlich im Garten in die Nähe eines Baumes schieben. Ich hasse Bäume. Ich hasse Bäume ebensosehr wie Messer - seit jenen drei Tagen in der Normandie. Aber das wissen mittlerweile alle Schwestern und Pfleger; nur die ganz neuen begehen da ab und zu einen Fehler. Und dann kommt es wieder, kommt alles wieder, so deutlich, als ob ein Film vor meinen Augen, in meinem Hirn abliefe, mit unbestechlicher, gnadenloser Detailtreue. Allerdings kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ich auch schreie. So schreie wie damals in den ersten Stunden. Aber irgendwann hört man zu schreien auf: entweder weil man eingesehen hat, daß es nichts nützt, oder schlicht aus Heiserkeit und Schwäche. Erhalten bleibt nur dieses Gefühl, dieses besch¡ssene Gefühl der Hilflosigkeit, des machtlosen Baumelns: so wie ein Weihnachtsstern, der am Christbaum hängt. Ja, auch Christbäume hasse ich seit jenen drei Tagen in der Normandie. Obwohl es damals natürlich keine Tanne war. Weiß der Henker, was für ein Shit-Baum es war! Hoch genug jedenfalls, daß es allein schon riskant, ja lebensgefährlich gewesen wäre, die Fallschirmgurte einfach abzuschnallen. Falls ich eben überhaupt an ein Koppelschloß gelangt wäre mit meinen Händen! Aber blödsinnigerweise hatte der Ruck, als der Fallschirm sich in der obersten Baumkrone verfing, das ganze Tragegestell an meinem Körper verschoben: ich konnte meine Arme nur wie halb gefesselt bewegen; eine Schließe war unerreichbar. Erreichbar war mir bloß mein Messer. Ja, und nach ein paar Stunden verzweifelten Zappelns, Fluchens und Schreiens war ich nervlich dann so weit, daß ich die Gurte durchschneiden wollte - egal, was daraufhin mit mir passieren würde; Hauptsache: Runter! Inzwischen jedoch gehorchten mir meine Finger schon nicht mehr so richtig: durch das lange Hängen, Erschöpfung, Verkrampfung - was weiß ich!? Es gelang mir zwar mit äußerster Mühe, das Messer aus dem Halfter zu angeln und anzusetzen an dem Gurt. Ich erinnere mich sogar noch, daß ich ein Gebet murmelte - und ich betete damals selten! Vermutlich würde ich mir bei der Landung auf dem Boden die Beine einen halben Meter in den Leib rammen oder zigfach brechen - oder beides. Sche¡ßegal! Ich quetschte die Klinge des Messers unter den Riemen und -
Und da entglitt es mir und fiel zu Boden. Fiel. Immer tiefer. Folgte der Schwerkraft wie Newtons Apfel. Plumps! Und lag unten. Ich konnte es sehen. Über meine linke Stiefelspitze weg konnte ich es genau sehen. Zwei Tage und zwei Nächte lang grinste es mich höhnisch an von da unten, blitzte keck herauf in der Sonne und glänzte genüßlich im Mondlicht: Zwei Tage und zwei Nächte lang sah es mich dort oben zappeln, lachte mich aus, zeigte mir seine scharfe glitzernde Klinge, die mich mit einem einzigen Schnitt befreien hätte können. Zwei Tage und zwei Nächte lang pfiff mir der Wind sein Kichern in die Ohren. Zwei Tage und zwei Nächte - bis mich ein paar Kameraden entdeckten dort oben, irgendwoher einen Kran organisierten und mich endlich am dritten Tag runterpflückten. So haben sie es mir wenigstens erzählt hinterher...
Von der ganzen Landung in der Normandie habe ich im Grunde überhaupt nichts mitbekommen, nicht einen einzigen German erledigt. Trotzdem haben sie mir einen Orden verpaßt. In letzter Zeit frage ich mich allerdings öfter, ob er tatsächlich echt ist oder nur so eine Art Placebo, ein Zuckerchen der Psychiater, die sich hier in diesem Veteranensanatorium um uns kümmern. Aber wozu lange darüber nachdenken? Es geht mir gut. Nächsten Monat werde ich achtzig. Und vielleicht besucht mich sogar der Verteidigungsminister.





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 27.04.2005
Kategorie: Kurzgeschichten

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