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Kätzchen

SergeD. - 1997

Ich bin ein Ästhet. Ich liebe Grazie, Eleganz, all die schönen Dinge des Lebens, die Auge, Ohr oder Gaumen, kurz: die Sinne erfreuen. Erst in meinem Alter, glaube ich, erlernt man die Kunst, sie recht aus vollem Herzen zu genießen, besitzt man dafür die intellektuelle und charakterliche Reife, die heitere, gelassene Welterfahrenheit, die beschauliche Muße und - glücklicherweise in meinem Fall - auch die notwendigen finanziellen Mittel, um in der Lage zu sein, sich seine kleinen, leider meist nicht ganz preiswerten Liebhabereien zu gönnen.
Heute kann ich über diese pausenlos in ihr Handy plappernden dreißigjährigen Juppie-Manager in ihren Tausend-Euro-Anzügen von der Stange und mit ihren schlechtgebundenen Krawatten, deren Muster sich gegenseitig an Geschmacklosigkeit überbieten, nur noch mitleidig lächeln. Was wissen die vom Leben? Auf der Jagd nach ihrer ersten oder meinetwegen auch schon zweiten Million hetzen sie mit Scheuklappen vor den Augen von Termin zu Termin, kennen zwar die Namen Bill Gates und Alan Greenspan, aber weder Platon noch Picasso, und halten wohl noch mit Fünfzig, nach ihrem dritten streßbedingten Herzinfarkt, Richard Wagner für den Erfinder der gleichnamigen Tiefkühlpizza. Kein Interesse und keine Zeit für Kultur, für Schönheit! Sie studieren die Gebrauchsanweisungen für ihre neueste Laptop-Software anstatt Epikur, Montaigne, Schopenhauer oder zumindest Goethe! Sehen Sie sich ihre innenarchitektonisch durchgestilten Appartments oder Bungalows doch an: Wo findet man denn zum Beispiel noch eine richtige Bibliothek, reichhaltig, universell, ausgestattet mit den wichtigsten Werken der Weltliteratur, ledergebunden, nicht nur als Pappdeckelattrappe für das Besucherauge, und da und dort auch tatsächlich vom Besitzer schon angelesen!? Wo hängen denn noch wertvolle Originalskizzen oder -gemälde an den Wänden - oder zumindest akzeptable Kopien anstatt billigster Ikea-Kunstdrucke? Wo steht denn noch eine klassische Skulptur oder ein Flügel, ganz egal ob ein Bechstein oder ein Steinway? Nirgends! Riesige, stumpfsinnige Technomusik dröhnende Stereoanlagen finden Sie und Stereo-Fernsehgeräte mit allen nur empfangbaren Satellitenprogrammen! Ich habe nichts gegen Videos; ich besitze selber eine schmucke kleine Privatsammlung - aber doch nicht bestehend aus "Terminator, Teil eins bis fünf" oder irgendwelchen Alien-Gruselschockern; ich bitte Sie!
Es ist meines Erachtens kein Zufall, daß ich im Theater oder in der Oper nahezu ausschließlich Damen und Herren meiner Generation begegne. Freilich spielt da in gewisser Hinsicht auch der finanzielle Aspekt eine Rolle - aber nicht nur! Dabei gibt es nichts Reizenderes, nichts Anmutigeres - zumindest für meinen Geschmack - als das Ballett! Besonders wenn, einmal im Jahr, bei der traditionellen Debütantinnengala die aufgeregten Elevinnen der Ballettschule vor ihren stolzen Eltern und den geladenen Honoratioren der Stadt ihre kleinen Füßchen auf jene Bretter setzen dürfen, die für die eine oder andere von ihnen vielleicht tatsächlich später einmal die Welt bedeuten werden. Eine unübertreffliche Augenweide, diese dahinschwebenden biegsamen, geschmeidigen, sieben- bis zehnjährigen Körperchen, voll konzentrierter Spannung und doch zugleich auch von unschuldigster, spielerischer Grazie und Leichtigkeit, jener naiven, unbewußten Anmut, die Heinrich von Kleist in seinem bekannten Aufsatz so einzigartig zu schildern gelungen ist. Immer erinnern sie mich lebhaft an geschmeidig sich reckende und streckende junge Kätzchen, meine Lieblingstiere.
Solch einen gelungenen Theaterabend lasse ich dann gerne, sei es zusammen mit meiner Gattin oder im Kreise von Geschäftsfreunden, bei einem gepflegten kleinen Imbiß in einem erstklassigen Lokal ausklingen, und ich weiß dabei - ohne mich im mindesten damit brüsten zu wollen - ebenso in Frankreich den Weinkellner wie in der Schweiz oder Holland das Mädchen, das zum Dessert den Käse anbietet, durch meine sachkundige und differenzierte Erläuterung der zur Auswahl stehenden Gaumenfreuden und Geschmacksvariationen und durch meine treffsicheren Empfehlungen stets weidlich zu beeindrucken.
Nun, auch anderen Mädchen scheine ich zu imponieren. Gewiß gebe ich mich in meinem Alter nicht mehr der eitlen Illusion hin, körperlich attraktiv für diese Teenager zu sein - ich war, glaube ich, auch vor vierzig Jahren kein ausgesprochener Adonis -, aber ich schmeichle mir doch, daß sie am Umgang mit mir nicht nur den obligatorischen Champagner und die komfortable Hotelsuite schätzen, die sie ein, zwei Nächte mit mir teilen dürfen, sondern auch das charmante, heiter-niveauvolle Gespräch, meine stets strengstens gewahrten Manieren der guten Alten Schule und meine breitgefächerten Kenntnisse, kurz: mein Savoir-vivre. Oft sogar fragt mich die eine oder andere vertrauensvoll um Rat, wie einen klugen, lebenserfahrenen Onkel, selbst in ganz persönlichen, intimen Angelegenheiten. Das ehrt mich zwar einerseits, gemahnt mich aber andererseits auch recht schmerzlich daran, daß diese niedlichen Dinger inzwischen alle schon jünger sind als meine eigene, leibliche Tochter.
Apropos Tochter: spätestens seit die unser Haus verlassen hat und ich wieder häufiger und länger auf Reisen bin, ahnt wohl meine Frau - daran zu zweifeln wäre naiv -, daß in den Hotels in Wien, Salzburg, Prag, Moskau, Genf, Zürich, Mailand, Madrid, Lissabon, Paris, Brüssel, Antwerpen, Amsterdam usw. nicht nur stets ein Korb mit zwei, drei jungen Kätzchen auf mich wartet - eine geflissentlich kredenzte kleine Aufmerksamkeit der wohlinformierten Empfangschefs -, sondern auch eines dieser lebenshungrigen und champagnerdurstigen, langwimprigen und für Geld und ein paar gute Worte zu allen nur denkbaren Spielchen bereiten Hosteßchen. Die Villa im Grünen mit dreißig Zimmern, ein Geländewagen, irgendeine gemeinnützige Vereinsaktivität und vor allem das dicke Scheckbuch ihres Ehegatten trösten Frau Doktor hinreichend darüber hinweg - vielleicht auch sogar ein persönlicher, blendend aussehender maskuliner Beistand, mag sein; das interessiert mich nicht. Wir leben in einer fairen Partnerschaft: sie läßt mir meine Hobbys und ich lasse ihr die ihren. Abgesehen davon stellten ja diese unreifen, in ihrem jugendlichen Übereifer viel zu aufdringlich geschminkten Möchtegern-Klassefrauen auch nicht im mindesten eine ernstzunehmende Konkurrenz für sie dar - eher schon die Kätzchen! Diese minirocktragenden langbeinigen jungen Fohlen sind zwar sehr entgegenkommend, aber gerade deshalb letzten Endes eigentlich doch recht durchschaubar und langweilig. Kostspielig sind sie ohnehin: Jedes möchte ein sündteueres Zaumzeug für sein Hälschen und seine Handgelenkchen, eh' es sich dann viel zu brav an der Trense führen läßt und folgsam bis zur Erschöpfung seine Kniechen hebt zur Hohen Schule. Selbst das anspornende Peitschchen auf die Kruppe nehmen sie anfangs noch widerstandslos hin, wenn auch nicht ganz so gerne. Da ist das Spielen mit den Kätzchen schon viel abwechslungsreicher, faszinierender und amüsanter!
Jedes kleine Stutchen, das mich besucht, staunt als allererstes über den Katzenkorb in meiner Suite. Woher denn das Hotelpersonal immer so rasch diese niedlichen, blutjungen Kätzchen für mich aufzutreiben wisse, mit ihrem streichelweichen Fell und den neugierigen großen Unschuldsaugen?! Ich kann über diese von bemitleidenswerter Naivität zeugende Frage der ahnungslosen Dummerchen stets nur lächeln. Als ob Organisation ein Problem wäre! Wer nur ein bißchen Augen und Ohren offenhält, oder Beziehungen besitzt und - wohlgemerkt! - auch nicht die Kosten scheut, diese zu pflegen - ich zum Beispiel erfreue mich gottseidank der besten, international! -, der bekommt, was immer sein anspruchsvoller Geschmack begehrt! Dafür muß man keineswegs höchstpersönlich zu den Quellen hinabsteigen, im Gegenteil: die meisten wirklich großen Geschäfte laufen über freilich teuer zu bezahlende Mittelsmänner - schon aus Gründen der Anonymität, des Selbstschutzes sozusagen - und basieren auf beiderseitiger Verschwiegenheit und Diskretion.
Betrachten Sie nur einmal die stetig wachsende Vorruhestandsmannschaft der zu Recht entlarvten, weil zum Teil geradezu jämmerlich stümperhaft mauschelnden Politiker in diesem unseren Lande! Da bringen doch etwa die Italiener, altererbtes Brigantenblut in den Adern, mit einer weitaus bravouröseren Chuzpe ihr privates Schäfchen unter dem Deckmäntelchen der Politik ins Trockene! Und wenn auch eher die nordwestlichen deutschen Nachbarländer für ihre Liberalität in Sachen "Angebot und Nachfrage" einschlägig bekannt sind, so trifft man in der schönen stillen Schweiz zum Beispiel auch nicht nur auf Vertreter von Kuckucksuhren... Aus dem guten alten Mütterchen Rußland bekommen Sie ohnehin alles, was Sie wollen. Kurzum: exzellente Kontakte und Beziehungen sind einfach in jeder Hinsicht das A und O! Da aber nicht einmal meine Frau über Herkunft und genauen Inhalt so mancher meiner kleinen Privatschätze Bescheid weiß, wie soll dann so ein blauäugiges, unerfahrenes Hürchen von derlei zollfreien geschäftlichen Transaktionen Ahnung haben!?
Wie schon gesagt: ich besitze eine nicht ganz alltägliche kleine Video- und auch Fotosammlung, die auf dem üblichen Handelsweg schwerlich zu erlangen sein dürfte; aber ich bitte Sie: Wem schadet das denn? Sobald solch ein Film erworben werden kann, ist es ja ohnehin schon zu spät: er ist fertig, abgedreht. Zugegeben: dreimal war ich auch schon bei einer Produktion anwesend, hautnah sozusagen. Ein im wahrsten Sinn des Wortes schier unbezahlbares Erlebnis, das einen so sehr in den Bann schlägt, daß man völlig atemlos und fast zu keiner Regung fähig dem hinreißenden Schauspiel folgt! - Wie bitte? Sie wären entrüstet, schockiert eingeschritten? Tatsächlich? Warum ertragen Sie es dann, allabendlich in den Fernsehnachrichten Bilder von Dutzenden toter, blutender oder schrecklich verstümmelter Kriegs- oder Terroropfer zu sehen und rühren keinen Finger!? Und zählen Sie doch bitte am nächsten Wochenende einmal mit, wieviele Leichen, Verstümmelte und Zombies da Ihren wahllos durchgezappten Weg durch die TV-Kanäle pflastern! Sie werden staunen über Ihre eigene Kaltblütigkeit! Im übrigen brauchen Sie dafür gar keinen "Terminator" oder "Stirb langsam und du da noch langsamer!" anzusehen - es reicht doch meist schon der gute alte stinknormale "Tatort"!
Aber wo bleibt, so frage ich Sie nun, bei diesen zutiefst anspruchslosen, literweise Blut verspritzenden Schundstreifen das Wichtigste: die Schönheit, die Ästhetik?! Wo bekommen Sie diese bezaubernd hilflose Grazie zu sehen, mit der solch nackte kleine Kätzchen sich verzweifelt, mit all ihren bescheidenen Kräftchen winden, zu kratzen und sich zu wehren versuchen mit ihren gefesselten Pfötchen und nach ihren Peinigern zu beißen; wie sie mit großen, tränenüberströmten Augen hilfesuchend in die Kamera starren und mit ihrem dicken Knebel im Schnäuzchen so herzzerreißend um Erbarmen miauen!? Gewiß: es wird ihnen bei diesen garantiert lebensechten, ungestellten Aufnahmen bitter-, bitterböse wehgetan, und möglicherweise wird das eine oder andere von ihnen nie mehr so leicht und feengleich in seinem weißen Ballettröckchen über die Bühne schweben können, aber - das wußten doch schon die Alten, und Roms Cäsaren waren in dieser Beziehung ja auch schon höchst phantasievoll und durchaus keine Kinder von Traurigkeit, vom Göttlichen Marquis ganz zu schweigen: solch außerordentliche Schönheit und Anmut, wie ihr sie besitzt, meine zauberhaften, süßen kleinen Kätzchen, muß eben seit jeher immer auch ein bißchen leiden...





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 22.04.2009
Kategorie: Kurzgeschichten

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