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Mein Gott, die arme Frau! Das arme Kind!

SergeD. - 28. September 2012

Gestern habe ich einen relativ langen Bericht (zweispaltig, à ca. 40 cm) auf Seite 3 in unserer Zeitung gelesen über eine Messerattacke mit tödlichem Ausgang auf eine Arbeitsamtsangestellte in Nordrhein-Westfalen. Das Gespräch mit einem Arbeitslosen war "eskaliert". Die Beamtin war Mutter eines minderjährigen Kindes. Mehrere Arbeitsamtsvorsitzende, Regionalvorstände und Minister erklärten unisono, daß es sich um ein "durch nichts zu rechtfertigendes, abscheuliches Verbrechen" handle, umso mehr, als das Opfer erst jüngst an einer Deeskalations-Schulung teilgenommen und sich demzufolge zweifellos gemäß den neuesten pädagogischen Richtlinien verhalten habe. Der Vorfall zeige einmal mehr, welcher ungeheuren psychischen Belastung, ja Gefahr für Leib und Leben all jene Beamten ausgesetzt seien, die in unmittelbarem Kontakt mit Arbeitslosen stünden. Hier sei die Politik zu baldigen und effizienten Schritten aufgefordert.
Darüber, ob auch der Täter womöglich aufgrund seiner sozialen Situation einer gewissen psychischen Belastung ausgesetzt war, ob womöglich auch er ein minderjähriges Kind daheim hat, oder ob es womöglich gar einen speziellen Anlaß für sein Ausrasten gegeben haben könnte, verlor der Artikel kein einziges Wort.




Mein Gott, die arme Frau! Das arme Kind!



"Mein Gott, die arme Frau! Das arme Kind!"
"Da sieht man's wieder, was für Leut das sind!"
"Leut? Sowas is kein Mensch, das is ein Tier!"
"Genau! Und kriegt von unserm Geld Hartz Vier!
Von unsern Steuern! Eine Affenschande!
Ich finanzier doch keine Mörderbande!"
"Ja, Deutschland is halt leider demokraddisch …"
"Da is mir ja der Grieche noch sümbaddisch!
Da weiß ich gleich, mei Geld schießt in den Wind."
"Mein Gott, die arme Frau! Das arme Kind!"

"Und sowas läuft frei rum auf unsern Straßen!"
"I däd die Arbeitslosen all vergasen …"
"Na, na, ich muß schon bitten, meine Herrn!"
"Zumindest so ein Arbeitslosenstern
müßt her, damit man so ein Element
als anständiger Bürger gleich erkennt
und sich in Acht nimmt, Fraun und Kinder schützt …"
"I sag, daß so a Stern allein nix nützt!
Zammgfangen ghörn die und zur Zwangsarbeid
verschickt wie in der guden alden Zeid!"
"Da is was dran! Die dun den ganzen Dag
doch nix, weil keiner wirklich schaffe mag!"
"Net mag?! Dem däd ich schon an Dschopp verschaffe!"
"Dann – sehn Sie doch – greift so ein Typ zur Waffe!
Ein falsches Wort zu so eim, dann beginnt …"
"Mein Gott, die arme Frau! Das arme Kind!"

"Entwaffnen müßt mer all die Arbeitslosen!
Ausziehn, jawoll, bis auf die Unterhosen,
und dreimal täglich müssens allesamt
antreten zum Appell beim Arbeitsamt!"
"Des wär des Grundverkehrtste, grade des!
Die stehn doch eh schon unter so am Streß!"
"Streß? Hamm Sie Mitleid gar mit den verdammten …"
"Ha noi, i mein die Arbeitsamtsbeamten!"
"Ach so. Ja, die sind freilich zu beklagen."
"Ein Risikoberuf heut, sozusagen!"
"Das ist tatsächlich aller Achtung wert,
wenn täglich man mit Mörderpack verkehrt,
am Schalter, schutzlos, wo man nicht entrinnt …"
"Mein Gott, die arme Frau! Das arme Kind!"

"Was Sie da sagen, Herr, is freilich richtig.
Nur find halt ich es auch sehr unvorsichtig
vom Amt, wenn's die Gefahr so unterschätzt
und eim Hartz-Vierer eine Frau hinsetzt,
die noch dazu ein Kind hat. Und das Beste:
ganz ohne stich- und kugelsichre Weste!
Das zeugt ja quasi schon von Übermut!
Und sowas geht auf Dauer halt net gut.
Mir unverständlich, daß man das riskiert hat
nachdem man ja schon andre attackiert hat."
"Der Arbeitslose ist gewaltbereit!
Zum Schutz der öffentlichen Sicherheit
gehört er demzufolge in Verwahrung."
"Jawoll! Wir Ältern hamm damit Erfahrung!
Für die muß man ein Arbeitslager baun
mit Wachtürm drum und am Elektrozaun!
Dann wär a Ruh in Deutschland, auf der Stelle!"
"Genau! Des sagt ja aach der Westerwelle."
"Der schwule Schwätzer! Mit dem gehn'S mir bloß!"
"Schwul sein darf jeder – nur net arbeitslos!"
"Na ja: sein Dschop verliert mer heut geschwind …"
"Mein Gott, die arme Frau! Das arme Kind!"

"Wer wirklich Arbeit sucht, der kriegt auch eine!
Vielleicht halt eben keine ganz so feine …"
"Das is ganz gleich! So Leute muß mer zwinge!
Dann hamm sie keine Zeit, wen umzubringe!"
"Als Bürger ständig in Gefahr zu schweben …"
"Beim Hitler hat's kei Arbeitslose geben!
Der hat sie zammefangen lasse und …"
"Nun halten bitte Sie doch mal den Mund!
'Bei Hitler …'!? Was sind Sie mir denn für einer?!"
"Kei echter Hitler! Aber so a kleiner,
der wär schon gar net schlecht. Ich garantier:
dann wär mit Gammeln Schluß und mit Hartz Vier!"
"Dabei erhöhn sie das im nächsten Jahr
schon wieder! Um acht Euro dann sogar!"
"Ja, ein Skandal! Spätrömisch dekadent!"
"Wieviel mer mit dem Geld doch Guds dun könnt!
Sinnvolles, net wahr? Banken retten, Firmen,
Europa ausstaffiern mit Rettungsschirmen!
Da, muß ich sagen, is die Merkel blind …"
"Mein Gott, die arme Frau! Das arme Kind!"

"Die Todesstrafe müßt halt wieder her!
Dann gäb's bald nicht so viel Hartz-Vierer mehr."
"Verzeihung, haben Sie schon mal bedacht,
was einen Menschen wohl zum Mörder macht?
Wenn Ihnen man das Geld zum Leben streicht,
Sie nicht mehr sehn, wie's weitergeht – vielleicht,
daß dann auch Sie im ersten Augenblick,
Familie und Schulden im Genick,
vorm Zwangsvollstrecker mit dem Stempelkissen
sich anders nicht mehr zu erwehren wissen …
Was wissen Sie, wie tief so jemand stürzt,
dem selbst das Bißchen Kleingeld man noch kürzt,
das als das Minimum zur Existenz
veranschlagt wird. Ob Sie aus Dekadenz
zur Waffe griffen oder mehr aus Not?
Ein Stich nur im Affekt – doch leider: tot …
Sie gehn für fünfzehn Jahre in den Bau.
Was wird in dieser Zeit aus Ihrer Frau
und Ihrem Kind, sofern Sie Vater sind?"
"Mein Gott, die arme Frau! Das arme Kind!"





Über das Gedicht

Veröffentlicht: 28.09.2012
Kategorie: Aktuelles & Zeitgeschehen

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